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1 TEILNEHMEN TEILEN TAUSCHEN2 EDITORIAL GOETHE-INSTITUT ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN I Unter dem Stichwort»Par...

TEILNEHMEN TEILEN TAUSCHEN

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

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I Unter dem Stichwort »Partizipation« hat sich seit Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, zeitgleich mit und inspiriert von der Studentenbewegung, eine mächtige Idee herausgebildet, die sowohl die Kunst als auch die Politik umfasst. Kurz gesagt geht es dabei darum, die Grenzen zwischen Künstler und Publikum und zwischen den Politikern und dem Volk aufzubrechen und idealerweise verschwinden zu lassen.

TEILNEHMEN, TEILEN, TAUSCHEN In der Politik bedeutet Partizipation: Das Volk ist sowohl an der Verantwortung wie an der Entscheidung beteiligt. Es muss sogar beteiligt werden, wenn eine Demokratie vernünftig funktionieren soll und wenn es das Ziel der Politik ist, im Sinne der Menschen zu arbeiten. Im Bereich der Kunst bedeutet Partizipation, dass die Künstler die Menschen als Teil ihres Schaffens begreifen und dass der Künstler selbst nichts Besonderes, sondern ebenfalls nur ein Mensch ist. Und dass andererseits, wie es in dem berühmten Satz des deutschen Künstlers Joseph Beuys heißt, »jeder Mensch ein Künstler« ist. Oft ist die Idee der Partizipation eine Wunschvorstellung geblieben, die sich nicht verwirklichen ließ. Oft wurde sie auch missbraucht, um bei den Menschen die Illusion zu erwecken, sie könnten an der Kunst oder an der Politik teilhaben, während sie in Wirklichkeit nichts zu sagen haben. Viele Künstler haben die Idee aber auch ernst genommen, wie im aktuellen Heft etwa Susanne Bosch zeigt, und auch die Idee der politischen Partizipation, etwa in Gestalt der Volksabstimmung, ist nach wie vor aktuell, wie der Bericht über den Omnibus für direkte Demokratie beweist, der auf eine Idee von Beuys zurückgeht. Und es gibt sehr viele Vorschläge, wie man die Idee der Partizipation unter den gegenwärtigen Bedingungen wieder zu neuem Leben erwecken kann, was wir in den Beiträgen von Mark Terkessidis über »Kollaboration« oder von Claus Leggewie über den »Konvivialismus« nachlesen können. Wenn wir die Idee der Partizipation auf die Wirtschaft beziehen, gelangen wir schnell zu den Stichworten Teilen und Tauschen, die einen weiteren wichtigen Aspekt unseres Heftes ausmachen. Dank des Internets ist der Begriff der Sharing Economy in Mode gekommen. Aber hat die Sharing Economy wirklich noch etwas mit »Teilen« im ursprünglichen Sinn zu tun? Oder handelt es sich nur um die Verlagerung der Geschäftemacherei auf das Individuum, wobei diesem zugleich alle Lasten aufgebürdet werden, wie Caroline Michel vermutet, die eine Reportage über die Welt dieser neuen Ökonomie geschrieben hat? Fragen der sozialen Gerechtigkeit bleiben also auch angesichts neuer ökonomischer Phänomene aktuell. Besonders spannend ist angesichts dessen die Frage, wie soziale Gerechtigkeit jenseits der im Westen entwickelten Konzepte von Sozialismus oder Liberalismus gedacht wird. Souheil Thabti und Ali al-Saleh berichten über das Verhältnis von Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit im Islam. Die in dieser Nummer vertretenen Künstler und Fotografien zeigen, dass diese Themen keine trockene Materie, sondern durchaus auch sinnlich erfahrbar sind. Übrigens: Teilen oder tauschen Sie doch bitte dieses Heft mit anderen Lesern! Diese werden sich freuen und Ihnen dankbar sein! Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihre Fikrun wa Fann-Redaktion

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann · November 2015

EDITORIAL

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I Zwar gibt es überall noch eine übermächtige autoritäre Bürokratie und immer wieder neue Versuche, die Menschen von der Teilhabe an der Gesellschaft auszuschließen. Doch zugleich sprießen überall auf der Welt Bewegungen hervor, die nicht nur gegen die Arroganz der Mächtigen protestieren, sondern auch praktisch neue Formen der Zusammenarbeit erproben. Über die Gründe und Perspektiven dieser sich neu entwickelnden Formen der Teilhabe hat unser Autor Mark Terkessidis nachgedacht.

MITMACHEN, NEU GEDACHT ÜBER DIE NEUE ETHIK DER KOLLABORATION VON

MARK TERKESSIDIS

VON DER GESCHICHTE BETROGEN? Im Mittelmeerraum, dessen Länder in den letzten Jahren von Krisen geschüttelt wurden, gehört ein Zustand der fatalistischen politischen Abstinenz traditionell zur affektiven Grundhaltung. Der Sozialanthropologe Christian Giordano hat davon gesprochen, die Betroffenen hätten den Eindruck, die »Betrogenen der Geschichte« zu sein. Die zugehörige »Mentalität« besteht, grob gesagt, aus folgenden Annahmen: Die wichtigen Entscheidungen werden nicht im eigenen Land gefällt, sondern von den Mächtigen im Ausland; mit ehrlicher Arbeit kommt man nicht weit, dafür sind die richtige Patronage oder Vermögen nötig; Politiker sind per se korrupt, Personen, die bloß für sich und die

Moschee von Gourna.

Ihrigen sorgen; realer Wandel ist unmöglich. Dennoch hat sich in

Foto: Mark Ryckaert

Es klingt seltsam, jemandem Kolla-

© Goethe-Institut

boration vorzuschlagen. Kollaborati-

den letzten Jahren eine Protestwelle durch den gesamten Mit-

on klingt in Kontinentaleuropa nach

telmeerraum gezogen. In einigen Ländern hat die »politische

Zusammenarbeit mit den Schergen

Klasse« zwar ihre Machtstellungen wieder bezogen, doch die

des Dritten Reiches, und der arabische Raum und Vorderasien

Frage ist, ob die Erfahrungen während der Proteste rückgän-

haben genug Erfahrungen mit autokratischen Regimes, um dem

gig zu machen sind. Die Demonstranten und Aktivisten konnten

Begriff eine ähnliche Bedeutung zu geben. Aber lassen wir die

bei ihren Aktionen erleben, was zu erreichen ist, wenn man mit

Überzeugungstäter einmal beiseite: Wer musste in seinem Le-

anderen zusammen wütend ist, sucht, sich bildet, etwas schafft,

ben noch nicht auf die eine oder andere Weise mit den (schlech-

wenn man also kollaboriert im positiven Sinne.

ten) Verhältnissen kollaborieren? Die wenigsten von uns sind mit dem Segen der kompletten Autonomie ausgestattet. Ob man sich

ZUGANG STATT BESITZ

ohnmächtig fühlt angesichts der politischen Umstände, der wirtschaftlichen Zwänge oder der globalen Marktturbulenzen: Die

Im Englischen hat die Bezeichnung collaboration keine negative

Ohnmacht bleibt real und erfordert oft genug eine Kollaboration

Komponente, das Wort bedeutet schlicht Zusammenarbeit. Da-

im schlechten Sinne.

bei hat das Wort collaboration in jüngster Zeit eine ziemliche

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Karriere hingelegt, zumal im Bereich der Wirtschaft und der

In Deutschland haben die Probleme mit der Eröffnung des neuen

Kunst. Die wissenszentrierte Ökonomie erfordert eine andere Ar-

Flughafens in Berlin zu viel Häme geführt. 2010 musste der Ter-

beitskultur. Die alten hierarchischen Strukturen, in denen Macht

min auf unbestimmte Zeit verschoben werden, weil immer mehr

darauf basiert, den eigenen Wissensvorsprung zu sichern und

bauliche Mängel entdeckt worden waren. Die Schwierigkeiten

nach außen abzuschirmen, erweisen sich als dysfunktional: Um

des Flughafens erscheinen als Allegorie für die Misere der büro-

rasche Entwicklungsfortschritte zu gewährleisten, wird Verant-

kratischen Planung. Verschiedene Bauherrn und Instanzen hat-

wortung nach unten verlagert und Wissen schneller geteilt. Viele

ten während des Bauprozesses immer neue Vorschläge einge-

Menschen lassen eine »Kultur des Teilens« entstehen, für die es

bracht, die aber nicht implementiert wurden, sondern einfach

gleich eine ganze Reihe englischer Wortschöpfungen gibt: Share

nur addiert. Bestehende Pläne wurden »überplant«. Als schließ-

Economy (oder Shareconomy), Wikinomics, Collaborative Econo-

lich die ersten Hindernisse auftraten, brach das Ganze wie ein

my oder Mesh. Als Beispiel wird immer wieder das unkommer-

Kartenhaus zusammen: Kaum war die eine Schwachstelle iden-

zielle Teilen von Quellcodes, Wissen, Musik etc. im Netz genannt.

tifiziert, wurden plötzlich zehn weitere sichtbar. Das Prinzip der »Überplanung« stellt die maßgebliche Arbeitsweise der visions-

In der Tat ist es jedes Mal wieder beeindruckend, wie selbst-

freien Einheit aus Politik und Bürokratie dar – eine echte, sinn-

verständlich wir heute auf Wikipedia zurückgreifen, auf ein Le-

volle Anstrengung zur Reform fehlt völlig. Die Simulation von

xikon, zu dem Personen weltweit ihr Wissen beisteuern und

Kontrolle verstärkt das Chaos nur weiter.

dessen Fundus sich weitgehend selbst reguliert. Von Carsharing bis Crowdfunding: Die Beispiele werden immer zahlreicher. Viele

JENSEITS DER DEMOKRATIE

Menschen wollen Dinge nicht mehr um jeden Preis besitzen, ihnen reicht ein gesicherter Zugang zu bestimmten Gütern. In der

Alle großen Proteste der letzten Jahre – in Deutschland, der Tür-

Kunst wiederum spielt die Zusammenarbeit zunehmend eine Rol-

kei, im arabischen Raum, in Brasilien und Chile etc. – wandten

le, weil das Künstlersubjekt, das einsam aus sich selbst und sei-

sich auch gegen autoritäre Planung, schlecht funktionierende In-

nem Leiden heraus schafft, endgültig abgedankt hat zugunsten

stitutionen, den Mangel an Beteiligung der Bevölkerung, das Feh-

von Gruppen junger Künstler, die ihre Kunst als engagierten Bei-

len von »guter Regierung«. Die Demokratie befindet sich in ei-

trag zur Erforschung, Kritik oder gar Verbesserung gesellschaftli-

ner fortwährenden Repräsentationskrise: Die Bürger haben nicht

cher Prozesse betrachten.

den Eindruck, von einer abgehobenen »politischen Klasse« noch vertreten zu werden. Colin Crouch hat in seinem gleichnamigen

INEffIZIENTE POLITIK

Buch von »Postdemokratie« gesprochen, um eine neue Form der scheinbar alternativlosen Expertenherrschaft zu kritisieren. Statt

Im Bereich der Politik allerdings haben sich diese Veränderun-

von Postdemokratie könnte man mit Pierre Rosanvallon aber

gen bislang kaum niedergeschlagen. Die herrschende Politik fällt

auch von einer neuen Bedeutung der »Gegendemokratie« (so der

aufgrund ihres Mangels an Zukunftsvisionen immer mehr mit

Titel seines Buchs) sprechen. Der französische Historiker meint

bürokratischen Prozessen zusammen, deren Maßgaben für Pla-

damit nicht das Gegenteil von Demokratie, sondern die Mecha-

nung häufig noch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stam-

nismen, mit denen sich die Bevölkerung eine informelle Kom-

men. Die Beamten definieren mit der Hilfe willfähriger Exper-

pensation für die Erosion von Vertrauen in die Politik organisiert.

ten am grünen Tisch so etwas wie das »Wohl« der Bevölkerung

Die wachsame oder auch denunziatorische und evaluierende Öf-

und exekutieren dann in autoritärer Weise ihre Vorstellungen. In

fentlichkeit besitzt, so Rosanvallon, eine gelebte »Vetomacht«, ja

Ägypten etwa hat sich die Regierung al-Sisi gleich auf die Erneu-

in Gestalt des Protests sogar eine »negative Souveränität«. Auch

erung des Suez-Kanals und den Bau einer neuen Hauptstadt kon-

kann die Bevölkerung politische Konflikte an die Gerichte verle-

zentriert. Obwohl die wirtschaftliche Prognose unklar ist, ge-

gen, was etwa in Deutschland zunehmend der Fall ist. In vielen

ben Großprojekte dieser Art der Politik das Gefühl von Potenz

Fällen haben die Bürger aber schlicht die Dinge selbst in die eige-

und Prestige. Trotz mancher Proteste spielen die Bürger in sol-

nen Hände genommen. Wo der Staat sich zurückzieht oder nicht

chen Planungen keine Rolle. »Das ist wie das Verhältnis eines Va-

funktioniert, springen sie ein. Im arabischen Raum sind es die

ters zu seinen Kindern«, schrieb der Politökonom Amr Adly am

Geldüberweisungen der Auswanderer, die sowohl Infrastruktur-

7. August 2015 in der Berliner Tageszeitung, »Der ägyptische Va-

maßnahmen als auch soziale Absicherung finanzieren. Der Erfolg

ter Staat will das Beste für seine Kinder, ohne sich mit ihnen zu

der religiösen Parteien verdankt sich auch deren »Sozialarbeit«:

beraten«. Allerdings ist die derzeitige Bürokratie selbst in den

Der politische Islam stützt sich auf einen Ruf des »Kümmerns«,

westlichen Ländern weit von tatsächlicher Potenz entfernt: In

auf den guten Ruf des nicht korrupten Unterstützers in vielen Le-

den letzten Jahrzehnten hat der Rückzug des Staates die Mög-

benslagen.

lichkeiten der Planung stark eingeschränkt. Die patriarchalischen Träume enden daher häufig in einer infernalischen Mischung aus

Im Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte sind die Bürger un-

Überregulierung und Ineffizienz.

entwegt zu Eigenverantwortung aufgerufen oder schlicht ge-

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zwungen worden. Der Staat erklärte sich zunehmend unzustän-

auf natürliche Weise die schönsten Häuser bauen. Sie sollten Er-

dig für so etwas wie öffentliche Wohlfahrt, seine Hauptaufgabe

kenntnis und Wissen im Prozess des Bauens erwerben, wobei der

sollte sich auf die Bereitstellung von Sicherheit im kriminologi-

Architekt dabei als eine Art Berater oder »Coach« fungierte, wie

schen Sinne beschränken. Auf die eine oder andere Weise haben

er in seinem Buch Architecture for the Poor von 1973 erläutert.

die Bürger diese Eigenverantwortung angenommen und immer

Als Vorteil dieser Bauweise betonte Fathy, die Bewohner könnten

mehr eigenständig für sich selbst und kollektive Angelegenheiten

ihre Häuser bei Problemen selbst reparieren. Viele der bis dahin

im eigenen Nahbereich gesorgt. Doch der Staat möchte als Ge-

entstandenen, dezidiert modernistischen Bauprojekte befanden

genleistung für seinen Rückzug nichts gewähren, keine Kompe-

sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Verfallsprozess, weil die Ex-

tenzen abgeben: Seine Bürokratie führt sich ebenso autoritär auf

perten abgezogen waren, ohne den Personen vor Ort das Know-

wie zu jenen Zeiten, als seine Institutionen noch allmächtig das

How und die Materialien zur Wartung zu hinterlassen.

»Wohl« der Leute definierten. Doch über das »Wohl« muss heute gemeinsam beraten werden – die Bevölkerung besteht nicht nur

Bei der Hinwendung zu lokalen Wissensbeständen und traditi-

aus eigenverantwortlichen Individuen, diese Individuen haben

onellen Materialien geht es aber nicht um so etwas wie Identi-

zudem sehr unterschiedliche Wertvorstellungen. Vor allem Aus-

tät. In seinem Buch Bauen ist Leben dokumentiert der Architekt

und Einwanderungsbewegungen und damit die dauerhafte Etab-

Georges Candilis ein interessantes Gespräch, das er während sei-

lierung von transnationalen Verbindungen, das heißt des Lebens

ner Tätigkeit in Marokko führte. Während der französischen Ko-

an mehreren Orten und in unterschiedlichen »Zwischenräumen«,

lonialperiode wurde Candilis Direktor eines Büros des »Ateliers

haben die Gesellschaft zu einer unhintergehbaren Vielheit wer-

des Batisseurs« (ATBAT), einem von Le Corbusier mitgetrage-

den lassen, die den nationalen Rahmen in Frage stellt. Diese Viel-

nen Studienbüro für Architektur und Urbanismus in Casablan-

heit hat sich auch in den jüngsten Protesten artikuliert. Die lang-

ca. In Marokko gab es damals wie fast überall die Notwendig-

fristigen Effekte dessen, was die Menschen auf dem Tahrir-Platz,

keit, schnell und preiswert möglichst viel Wohnraum zu schaffen.

im Gezi-Park oder auf dem Syntagma-Platz erlebt haben, sind

Candilis erhielt die Möglichkeit, eine Reihe von Unterkünften zu

nicht zu unterschätzen. Ebenso wenig wie die Erfahrung, dass

planen und zu bauen, deren Gestalt er von seinen Forschungen

sich eine autokratisch-»demokratische« Regierung wie jene Ben

über die Lebensumstände der Bewohner ableitete. Er versuchte,

Alis in Tunesien als reine Kulisse erwies, die binnen Tagen zusam-

deren Herkunft, Status und religiöse Orientierung zu berücksich-

menbrach.

tigen, was sich deutlich vom modernistischen Diktat unterschied. Seine so anders wirkenden Gebäude weckten das Interesse der

IDENTITäT VS. PROZESS

marokkanischen Unabhängigkeitsbewegung, und so wurde er von Aktivisten zu einem Gespräch gebeten. Allerdings erhielt er

Neue Formen der Kollaboration im positiven Sinn wurden bereits

nicht das erwartete Lob, sondern wurde mit der Frage konfron-

in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit diskutiert. Bei-

tiert, warum er nicht die »gleichen Häuser wie für die Europäer«

spielsweise hat der bekannte ägyptische Architekt Hassan Fathy

bauen würde. »Ich versuche, eure Identität zu finden«, antwor-

kollaborative Arbeitsweisen vorgeschlagen. Er befand sich dabei

tete Candilis naiv, und handelte sich damit zu Recht den Vorwurf

in der Gesellschaft von Architekten und Stadtplanern wie C. A.

des Neokolonialismus ein.

Doxiadis und Jaqueline Tyrwhitt, den Mitgliedern des sogenannten Team X (Georges Candilis, Shadrach Woods, Peter und Alison

Für das arabische Denken hat der marokkanische Soziologie Ab-

Smithson, Aldo van Eyck u. A.), Ralph Erskine, Lawrence Halprin

delkebir Khatabi einmal von einer »leidenden Verdopplung« ge-

oder John Turner, die gegen die modernistische Normierung des

sprochen, die in einem Moment den Westen aus Sicht des Ostens

Bewohners in der Planung die reale Existenz von unterschiedli-

kritisiert und kurz darauf den Osten gegen den Westen in An-

chen und auf die eine oder andere Weise in Gemeinschaften ein-

schlag bringt. Diese Schwierigkeit, einen Referenzpunkt zu fin-

bezogenen Menschen setzen.

den, prägt die Artikulationen der Marginalisierten und »Zu-SpätGekommenen« seit Beginn der Moderne. Die schlechte Kopie des

In diesem Sinne wurde vor allem in der Armutsbekämpfung dar-

Westens lockt ebenso wie eine angebliche Rückkehr zur Traditi-

auf geachtet, von den bestehenden Formen der Selbstorganisati-

on und »eigenen« Identität. Je mehr aber diverse Rückwendun-

on – auch in den Slums – zu lernen. Fathy hatte Projekte in länd-

gen in die eigene, »große« Vergangenheit gescheitert sind oder

lichen Regionen Ägyptens angestoßen, deren Leitprinzip darauf

sich als beliebig oder auch repressiv erwiesen haben, desto ka-

basierte, nicht »für« die Armen zu bauen, sondern die Armen mit

rikaturhafter werden die identitären Bewegungen, die wieder-

lokalen Wissensbeständen und lokalen Materialien selbst bau-

um selbst – das zeigt etwa das Beispiel Islamismus – zutiefst von

en zu lassen. Fathy ging dabei nicht davon aus, die Dorfbewoh-

westlichen Konzeptionen geprägt sind. Alle Positionen sind heu-

ner würden die »alten« Materialien (wie Lehmziegel) schätzen,

te vermischt, unrein, »durch das Nadelöhr des Anderen« hin-

die traditionellen Handwerksmethoden bereits beherrschen oder

durch gegangen, wie Stuart Hall einmal geschrieben hat. Bereits

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Hassan Fathy hat vorgeschlagen, sich nicht von falschen Dicho-

ständigem Bedürfnisaufschub. Die Disziplin des 19. Jahrhunderts

tomien leiten zu lassen, sondern einen Prozess des Aushandelns

geriet in eine massive Krise.

in Gang zu setzen, in dem ausgehend von den Möglichkeiten und Ressourcen an einem Ziel gearbeitet wird.

Seitdem hat sich der Griff der Disziplin gelockert, aber verschwunden ist sie nicht. An ihre Stelle ist bisher kein anderes

Nun bezogen sich Fathys Überlegungen auf das ländliche Ägyp-

Leitprinzip getreten. Zwar sprechen die Kritiker des Neolibera-

ten, aber Kollaborationsprozesse haben sich auch bei Planungs-

lismus und des Sicherheitsstaats von einer Kontrollgesellschaft,

prozessen in den Städten als äußerst wirksam erwiesen. Die

in der das Verhalten der Individuen nicht mehr zentral über-

eigenverantwortlichen Individuen verfügen durchaus über er-

wacht, sondern durch Peer-Begutachtung, Grenzwert-Ermittlung

hebliche Wissensressourcen, die sie im Nahbereich ihres Lebens,

und penetrante Evaluation reguliert wird. Doch das lässt die ge-

in ihrer direkten Umgebung, aber auch etwa bei der Verwendung

sellschaftlichen Zustände zusammenhängender erscheinen, als

von Steuergeldern einbringen können – hier liegt ein großes Po-

sie tatsächlich sind. Zudem übersehen diese Kritiker konsequent

tential für die Entwicklung von Gesellschaft. Wie sich an Fathys

die Freiheitsgewinne der letzten Jahrzehnte und die oben be-

Modell auch schon ablesen lässt, sollte man Kollaboration nicht

schriebenen neuen Formen der Selbstorganisation. Kollaborati-

als schlichtes basisdemokratisches Konsensverfahren verstehen,

on könnte daher ein solches neues Leitprinzip werden. Was etwa

in dem für viele Personen durchaus abschreckende Endlos-Dis-

Erziehung und Bildung betrifft, so erweisen sich die alten Kon-

kussionen geführt werden. Eine gute Kollaboration muss für das

zepte zunehmend als obsolet, in denen ein allwissendes und mit

jeweilige Feld ein sinnvolles Verfahren definieren, in dem ver-

einer unhintergehbaren Autorität ausgestattetes Lehrersubjekt

ständliche Ziele formuliert werden und Wissensvorsprünge (wie

den Kindern frontal »Stoff« eintrichtert und sie dabei von seiner

etwa jeder des Architekten) berücksichtigt werden; und es sollte

zentralen Position aus bewertet. Die besten Schulen beziehen

die Möglichkeit eingebaut sein, ab einem gewissen Zeitpunkt zu

heute die Schüler in die Planung des Unterrichts und der eige-

Entscheidungen zu kommen. Kollaboration verzichtet nicht auf

nen Lernziele mit ein, lösen die traditionell panoptische Struk-

Autorität, sondern bettet sie in den Kontext eines gemeinsam

tur des Klassenzimmers auf zugunsten von flexiblen Lernarran-

entwickelten Projekts ein. Darüber hinaus eröffnet Kollaboration

gements und setzen mehrere Lehrkräfte als »Coaches« ein. Eine

auch die Möglichkeit, Fehler zu machen. Während die Großpro-

solche Neuorientierung erfordert auch den Verzicht auf das klas-

jekte von einsamen Planern am grünen Tisch ausgearbeitet und

sische Bildungsideal, gemäß dem wir durch Bildung unsere inne-

dann ausgeführt werden, bedeuten Kollaborationen die Möglich-

ren Anlagen entwickeln, also zu dem werden, was wir ‚eigentlich‘

keit der konstruktiven Kritik an vielen Stellen, was eine ständige

sind. Stattdessen geht es darum, kollaborativ unsere Kompeten-

Überprüfung ermöglicht.

zen zu erarbeiten, also ein Können, das nach außen gerichtet ist, das sich im Austausch erprobt, um ein möglichst hohes Maß an

DISZIPLIN VS. KOLLABORATION

Autonomie und Handlungsfreiheit zu gewähren. Das widerspricht

Kollaboration ist kein revolutionäres Konzept, sondern in den

tät, also die Vorstellung, es gebe in jedem von uns einen ‚eigent-

Zwischenräumen des Gesellschaftlichen angesiedelt. Die Herr-

lichen‘ Kern.

übrigens ebenfalls den herkömmlichen Vorstellungen von Identi-

schaft des Volkes in der Demokratie war immer mit bestimmten verhaltensregulierenden Machttechniken verbunden, die dafür

In der letzten Ausgabe von Art&Thought (Heft 103) hat der ägyp-

sorgten, dass die Individuen nicht einfach taten, was sie woll-

tische Autor Saad Al-Kirsh geschrieben, die ersten unschuldigen

ten. Michel Foucault hat eine Art gesellschaftliches Training be-

Tage der ägyptischen Revolution hätten einen »Kern der Zivilität«

schrieben, in dem die Individuen lernten, sich selbst zu steuern.

freigelegt, der während der Regentschaft Hosni Mubaraks kaum

Das Leitprinzip dazu hieß Disziplin. Eine Technik, mit deren Hil-

mehr spürbar gewesen sei. Wir sind Kollaborateure, im positiven

fe die Personen durch andauernde körperliche Übung und indi-

wie im negativen Sinne. Der Vorschlag der Kollaboration im po-

viduelle Überwachung in sogenannten Einschließungsmilieus (Fa-

sitiven Sinn mag naiv erscheinen, zumal im Angesicht der Fein-

milie, Schule, Militär, Fabrik, Büro, Gefängnis etc.) quasi dressiert

de einer solchen fairen Zusammenarbeit. Hassan Fathy konnte

wurden. Nun waren die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg

keines seiner Projekte zu Ende führen, weil eine verständnislose

noch geprägt von der Welt der Industrie. Das Leben der Men-

Bürokratie den Prozess irgendwann unterbrach. Daran hat sich

schen richtete sich im Großen und Ganzen nach den Imperativen

bis heute nicht viel geändert, wobei die Bürokratie durchaus be-

der Produktion – Arbeit, Karriere, Konkurrenz, Leistung, Besit-

merkt hat, dass es kostensparender sein kann, die Diskussionen

zindividualismus, Familie und intaktes Heim. Der Massenkonsum

mit der Bevölkerung vor Neuplanungen zu führen, als im Nachhi-

brachte jedoch ganz andere Werte ins Zentrum der Gesellschaft:

nein mit lauter Protesten konfrontiert zu sein. Andere Feinde der

Geldausgeben statt Sparsamkeit, Stil statt Genügsamkeit, Weg-

Kollaboration sind die identitären Bewegungen, etwa jene Teile

werfprodukte statt Dauerhaftigkeit, schnelle Befriedigung statt

der populistisch-nationalen Parteien in Europa, die sich dem Ge-

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spräch schlicht entziehen wollen. Diese Gruppen müssen ebenso

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MARK TERKESSIDIS

ist deutscher Publizist mit dem

schlicht bekämpft werden. Allerdings hat Kollaboration den Vor-

Schwerpunktthema Popkultur und Migration und lebt in

teil, sich auf kleinteilige Entwicklungen konzentrieren zu können,

Berlin. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht,

die oftmals unter dem Radar solcher rückschrittlicher Bewegun-

zuletzt Kollaboration, Suhrkamp 2015.

gen liegen. Kollaboration liegt in den Zwischenräumen, und sie kann trotz widriger Umstände überall dort wirken, wo Menschen in einem Geist des Suchens gemeinsam nach Lösungen streben.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann, November 2015

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I Der Konvivialismus ist eine Denkrichtung, die auf der Idee des Teilens und Tauschens basiert, dem eigennützigen, bloß wirtschaftlichen Denken entgegentritt und für eine intakte Beziehung von Mensch und Natur sorgt. Aber kann, was in lokalen, egrenzten Zusammenhängen funktioniert, auch weltweit glücken? Claus Leggewie, einer der führenden Intellektuellen Deutschlands und Aktivist der konvivialistischen Bewegung, gibt Auskunft.

IST wELTwEITES TEILEN MöGLICH? DAS KONZEPT DES KONVIVIALISMUS ALS NEUER INTERNATIONALISMUS VON

CLAUS LEGGEwIE

Intervention im öffentlichen Raum, Bestandteil des Projektes Jericho – Beyond the Celestial and Terrestrial, 05.10.2012 © Birzeit Museum 2012

Die Besonderheit des 2013 in Umlauf gesetzten »Konvivialis-

vialismus (con-vivere, lat.: zusammenleben) herangezogen. Der

tischen Manifests« bestand in den Worten des deutschen Co-

Begriff soll anzeigen, dass es darauf ankomme, eine neue Philo-

Herausgebers Frank Adloff darin, »dass sich eine große Gruppe

sophie und praktische Formen des friedlichen Miteinanders zu

von Wissenschaftlerinnen und Intellektuellen ganz unterschied-

entwickeln. Das Manifest will deutlich machen, dass eine andere

licher politischer Überzeugungen auf einen Text einigen konnte,

Welt möglich – denn es gibt schon viele Formen konvivialen Zu-

der in groben Zügen benennt, welche Fehlentwicklungen zeitge-

sammenlebens –, aber auch angesichts oben genannter Krisens-

nössische Gesellschaften durchlaufen. Hier identifizierte das Ma-

zenarien absolut notwendig ist« (Frank Adloff).

nifest zwei Hauptursachen: den Primat des utilitaristischen, also eigennutzorientierten Denkens und Handelns und die Verabsolu-

In diesem Beitrag geht es darum, ob der konvivialistische Ansatz

tierung des Glaubens an die selig machende Wirkung wirtschaft-

geeignet ist, globale Allmendegüter (Güter, die im Prinzip allen

lichen Wachstums. Zum anderen wird diesen Entwicklungen eine

gehören) zu schützen und die »Sustainable Development Goals«

positive Vision des guten Lebens entgegengestellt: Es gehe zual-

(SDG’s) durchzusetzen, ob er also nicht nur geeignet ist, den Nah-

lererst darum, auf die Qualität sozialer Beziehungen und der Be-

raum der Lebenswelt zu prägen, sondern auch die »realistische«

ziehung zur Natur zu achten. Dazu wird der Begriff des Konvi-

Welt der internationalen Beziehungen zu beeinflussen.

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INTERNATIONALER GABENTAUSCH?

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zwar Rückzahlungs- und Reparationspflichten hatte, diese jedoch besser durch Moratorien und Schuldenerlasse zu temperieren

Einer konvivialistischen Außenpolitik liegt eine Denkweise des

waren, um einer nationalistischen Trotzreaktion von Schuldnern

Gabentausches nach dem französischen Ethologen und Soziolo-

(und Gläubigern!) vorzubeugen. Zugespitzt: Durkheim, Mauss’

gen Marcel Mauss zugrunde, die ich hier nur knapp rekapitulie-

Lehrmeister (und Onkel), konzipierte Solidarität als inner-gesell-

ren kann. Die Gabe geht über einfache Reziprozität (im Sinne der

schaftliche, Mauss als zwischen-gesellschaftliche. Für Mauss sind

Wechselwirkung) insofern hinaus, als dem freiwilligen Akt des

Gesellschaften immer konstitutiv auf »internationalen« d. h. in-

Gebens ein ekstatischer, selbsttranszendierender Charakter der

terkulturellen Austausch angewiesen.

Beziehung zum Anderen innewohnt und sie über zunehmend anonymisierte Ketten von Geben, Nehmen und Erwidern verläuft;

Beispiele konvivialistischer »aussenpolitik«

in der Annahme der Gabe liegt die Erfahrung des Ergriffen-Seins durch den Anderen und dessen Sache. Die Paradoxie besteht da-

1. SCHULDENSCHNITT

rin, dass es vertraglich oder normativ keine Pflicht zum Geben, Annehmen oder Erwidern gibt. Jeder Beteiligte kann an jedem

Im Zentrum steht die aktuelle Schuldenproblematik, die Ver-

beliebigen Punkt dieses Zyklus »aussteigen«. Der Geber kann

schuldung der öffentlichen und privaten Haushalte sowohl von

also nicht von Vornherein damit rechnen, etwas für die Gabe zu-

reichen OECD-Ländern wie insbesondere von Ländern der Pe-

rückzubekommen. Zwar wird faktisch häufig erwidert, aber das

ripherie im »globalen Süden«. Statt dass die Gläubiger (Staaten

Motiv zu geben kann nicht darauf unmittelbar zurückgeführt

und Banken) ihnen eine Rückzahlung der Schulden aufoktroyie-

werden, etwas zu erhalten. Deshalb ist die Freiheit genauso kon-

ren (um den Preis eines in diesem Fall unaufhaltsamen Kollaps),

stitutiv für die Gabe wie die Pflicht. Die aus einer Gabe häufig er-

sollten sie einen Schuldenerlass und Zahlungsmoratorien gewäh-

wachsende empfundene Verpflichtung lässt sich nicht einklagen:

ren, verbunden mit Maßnahmen, die eine selbsttragende Ent-

Nur zum Tausch gehört notwendig das Prinzip der Wechselseitig-

wicklung ermöglichen. Der Gedanke an Schuldvergebung wirkt

keit, auch wenn die Erwiderung nicht direkt an den Geber adres-

weniger bizarr, wenn man sich die wechselseitige Verstrickung

siert sein muss. Die Gegengabe zirkuliert zwischen diversen Kol-

von Schuldner und Gläubiger vor Augen führt – und den damit

lektiven und über Generationen hinweg.

verbundenen Verlust an Handlungsfreiheit auch für diejenigen, die im Fall des Zusammenbruchs der mit Forderungen überzoge-

Ein auf der Gabe beruhender Transfer von Ressourcen (im Unter-

nen Volkswirtschaften Südeuropas (im wahrsten Sinne) ewig auf

schied zu rein symbolischen Gesten / Gaben) unterscheidet sich

die Zahlung von Zinsen und die Rückzahlung von Schulden war-

grundsätzlich vom marktförmigen Tausch. Denn man weiß nicht,

ten müssen und auf diese Weise mit in den Strudel geraten. Man

ob man etwas zurückerhält, was »reziproziert« wird, und wann

müsste einsehen, dass die Fabrizierung der aktuellen Finanzkrise

man etwas erwidert bekommt. Dies liegt jeweils in der Hand

ein Werk beider Seiten gewesen ist.

des Empfängers einer Gabe. Daraus lassen sich Schlussfolgerungen ziehen, die auf die Re-Etablierung von solidarischen und mo-

Zu verhindern ist ein Kollaps nur durch weitere Gaben in der

ral-ökonomischen Handlungsformen abzielen: Genossenschaften,

Hoffnung, dass diese Investition bessere Früchte trägt. Gegen

karitative Hilfe, Nonprofit-Organisationen, Spenden, Stiften, bür-

Abzahlen stünde Vergebung, gegen Schuldknechtschaft Freiheit.

gerschaftliches Engagement – mit diesen Begriffen ist das wei-

Nur die radikale Unterbrechung des öden Rückzahlungsgeschäfts

te und differenzierte Feld (in anderer Terminologie: der »Dritte

erlaubt in dieser Sicht einen neuen Anfang und gäbe – vermut-

Sektor«) bezeichnet, das weder auf die Logik des Marktes noch

lich zur Verwunderung des Geschädigten selbst – auch diesem

auf die der staatlichen Allokation reduziert werden kann. Es geht

die Freiheit wieder.

hier um einen Ressourcentransfer auf der Basis von Vertrauen ohne Erwartung eines konkreten Entgelts, aber im Blick auf eine

ALTERNATIVEN füR GRIECHENLAND

konviviale moralische Ökonomie und einen materiellen Nutzen für alle oder viele.

Eine Möglichkeit, das strukturschwache und (durch die eigenen

Interessant ist nun, dass Mauss seine ethnologisch fundierte The-

wiederzubeleben, ist also der Einsatz von Fördermitteln und In-

orie vor dem Hintergrund und im klaren Bezug auf eine zeitge-

vestitionen für die Nutzung von Solar-, Wind- und Wasserenergie

nössische Problematik entwickelt hat, nämlich die Rückzahlung

in Griechenland. Griechenland ist im Mittelmeervergleich über-

von Schulden bzw. die Leistung von Reparationen, die das Deut-

durchschnittlich abhängig von teuren Öl- und Kohle-Importen,

Unternehmer und Druck von außen) marode Hellas ökonomisch

sche Reich als im Ersten Weltkrieg unterlegene Nation an die Sie-

die Griechen zählen zu den größten Klimasündern in der EU, da-

germächte zu leisten hatte. Mauss bezog in weniger beachte-

bei gibt es fast doppelt so viele Tage mit hoher Sonneneinstrah-

ten »politischen Schriften« die Position, dass das Deutsche Reich

lung an ihren Küsten wie in Nordwesteuropa. Auch wenn das

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ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

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Problembewusstsein für den Klimawandel beziehungsweise das

Die Mittelmeerländer sind trotz der industriellen Entwicklung

Thema Energieeffizienz in Griechenland in der breiten Bevölke-

und der Herausbildung eines Dienstleistungssektors in eine

rung und unter den politischen und wirtschaftlichen Eliten bisher

asymmetrische Arbeitsteilung mit den reichen EU-Ländern ein-

nicht sehr ausgebildet ist – was läge näher, als auch hier eins und

gespannt geblieben, die sie in dauerhafter Abhängigkeit gehal-

eins zusammenzuzählen und eine entsprechende industrie- und

ten hat und jetzt erneut eine massive Abwanderung von unqua-

energiepolitische Initiative zu starten?

lifizierter und qualifizierter Arbeitskraft nach sich gezogen hat. Notwendig sind deshalb die Aushandlung einer umweltverträgli-

Derzeit werden die Klimaziele der EU in Griechenland nicht son-

chen, wesentlich stärker auf lokale Bedürfnisse und Märkte ein-

derlich ernst genommen (nach dem Motto: Erst kommt die Kri-

gestellten Agrarökonomie, ein fairer Handelsaustausch und ein

se …), auch gelten sie in Kreisen der extremen Linken und Na-

vernünftiges, beiden Seiten dienliches Migrationsregime.

tionalisten oftmals als Ausdruck eines »grünen Imperialismus«. Doch ist das ein schwerer Denkfehler. Gerade Anstrengungen im

Dringend geschützt werden muss die verletzliche ökologische

Bereich der Energiewende könnten der lahmenden Volkswirt-

Basis des Mittelmeeres. Zugleich kann man über umweltver-

schaft Beine machen. Anerkannt wurde dies, wenigstens rheto-

trägliche Entwicklungen in Form nachhaltiger Fischerei (inklusi-

risch, mit dem Helios-Projekt, dem Plan für den »größten Solar-

ve Aquakulturen) und erneuerbare Energiedienstleistungen aus

park Europas« (so der damalige EU-Kommissar Günter Oettinger),

dem Meer nachdenken. Beides zusammen setzt voraus, das Meer

der 2050 zehn Gigawatt Solarstrom exportieren soll.

nicht länger nur als Brunnen und Rinne zu betrachten (und zu missbrauchen), sondern die Méditerranée im europäischen Be-

Schon 2015 sollte die erste Anlage ans Netz gehen, doch über

wusstsein als »unser Meer« schätzen zu lernen.

das Planungsstadium ist das Projekt nie hinausgekommen, da sowohl die Finanzierung als auch der Leitungsbau und die Einspei-

2. TRANSNATIONALE GERECHTIGKEIT

semodalitäten ins europäische Netz unklar geblieben sind. Das ist besonders bedauerlich vor dem Hintergrund der Gefahren

Marcel Mauss hat bei den Reparationsverhandlungen zwischen

des aktuellen Wettlaufs um die Erschließung neuer Erdöl- und

Kriegsgegnern des Ersten Weltkrieges die Möglichkeit einer ge-

Erdgasquellen im östlichen Mittelmeer, vor allem im Süden Zy-

meinsamen und einverständlichen Verständigung über in der

perns. Um Zypern herum stoßen die Nutzungsansprüche Grie-

Vergangenheit liegende Übel (hier: der kriegerische Konflikt) un-

chenlands, der Türkei, Ägyptens, Israels, Syriens und des Libanon

terstellt. Diese Erwartung hat sich nach 1945 in der deutsch-

im Mittelmeer konflikthaft aneinander. Da Zypern eine geteil-

französischen und deutsch-polnischen »Aussöhnung« erfüllt. Ein

te Insel ist, deren griechische Mehrheit die Existenz einer eigen-

korrespondierendes Element der materiellen Kompensation ist

ständigen türkischen Republik im Norden nicht anerkennt und

demnach der moralische Aspekt der »Aufarbeitung der Vergan-

deren exponierte Lage im östlichen Mittelmeerraum sie Claims

genheit«.

diverser Mittel- und Großmächte aussetzt, ist die Fokussierung auf eine vornehmlich durch Erdgas sichergestellte Energiever-

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass im Rahmen

sorgung wahrlich keine optimale Lösung. Die bessere politische

der von Deutschland ausgehenden bzw. der Bundesregierung

Option im krisengeschüttelten Mittelmeergebiet sind erneuerba-

zugeschriebenen Intervention zur Lösung der Schuldenkrise in

re Ressourcen, die in den Ländern des Mittelmeerraums selbst in

Griechenland alte Forderungen nach Reparationsleistungen für

Hülle und Fülle vorhanden sind.

vom Deutschen Reich begangene Kriegsverbrechen wieder aufkamen. Unter anderem hat die jüdische Gemeinde von Thessa-

Eine Energiewende im Süden würde andere Bereiche positiv be-

loniki Deutschland nach einem ergebnislosen Rechtsstreit über

einflussen. Immer noch entfällt rund ein Drittel des globalen Tou-

zwei Jahrzehnte vor griechischen Gerichten vor dem Europäi-

rismus auf die Mittelmeerregion, deren Infrastruktur und Men-

schen Gerichtshof für Menschenrechte auf Entschädigungszah-

talität er zutiefst geprägt hat. Regional ist der Tourismus oft

lungen verklagt. Es geht dabei um »immaterielle Schäden« sowie

nicht nur ein Leitsektor, sondern eine regelrechte Monokultur,

ein Lösegeld in Höhe von 2,5 Millionen Drachmen, das die jüdi-

deren Effekte bei politischen Krisen und schlechtem Wetter so-

sche Gemeinde 1943 an den Regionalkommandanten der Nazis,

fort negativ durchschlagen. Unterm Strich hat der Massentouris-

Max Merten, gezahlt habe. Mit der Summe, die nach heutigem

mus über die Jahrzehnte hinweg gravierende ökologische und

Stand etwa 45 Millionen Euro entspreche, seien damals 9000 Ju-

ökonomische Kollateralschäden verursacht. Notwendig ist des-

den aus der Zwangsarbeit ausgelöst worden. Vor dem Zweiten

halb der Wandel einer rücksichtslosen Masseninvasion aus dem

Weltkrieg lebten in Thessaloniki mehr als 50.000 jüdische Ein-

Norden in die touristischen Zielgebiete in eine respektvolle und

wohner, von denen weniger als 2000 den Holocaust überlebten.

kreative Begegnung der Menschen aus dem Norden und Süden,

Die Bundesregierung verweist stets darauf, die Frage der Repa-

die Kooperation und Empathie auch über die Ferienwochen hi-

rationen sei seit Langem durch internationale Abkommen gere-

naus erlaubt.

gelt. Ungeachtet der Frage, ob solche Forderungen im legalen

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ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

Sinne berechtigt sind, illustriert der Fall noch einmal den engen

11

3. PHILANTHROPIE GLOBAL

Zusammenhang von Schuld und Schulden – der Gläubigerforderung wird eine Reparationsleistung entgegengesetzt.

Das korrespondierende Gegenstück finanzieller »Großzügigkeit« ist die in den letzten Jahrzehnten quantitativ explodierte und

Die berühmte deutsche Philosophin und Politikwissenschaftle-

zum Faktor der transnationalen Politik aufgestiegene Philanthro-

rin Hannah Arendt hielt zwei Fähigkeiten des zoon politikon, des

pie diverser Spielarten, die durch schwerreiche Mäzene wie Bill

Menschen als politisches Wesen, hoch: die Fähigkeit zu verzei-

Gates und Warren Buffett personifiziert (und in den Augen von

hen (ein Mittel gegen die Unwiderruflichkeit des Geschehenen)

Kritikern auch kompromittiert) wird. In diesen philanthropischen

und das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten (gegen

Aktivitäten, die überwiegend auf die Bekämpfung von Epidemi-

die Annahme der Unabsehbarkeit von Zukunft). »Im Rückgriff

en und lebensbedrohenden Krankheiten zielen, wird das in der

auch auf den Begriff der Handlung von Hannah Arendt, der dem

Ökonomie vorherrschende Muster reziproken Austauschs modi-

der Mauss’schen Gabe im Grunde sehr nahe steht, lässt sich eine

fiziert und Asymmetrie zum Strukturmerkmal. Da diese soziale

allgemeine Kategorie beschreiben, die man ‚konstitutive Hand-

Aktivität häufig unter dem Verdacht steht, egoistische Motive der

lung’ nennen könnte. Solche Handlungen eröffnen und generie-

Geber zu bedienen, ist es an der Zeit, heutige Philanthropie in

ren Möglichkeiten, die zuvor nicht bestanden, und sie lassen dort

ihre historischen, ethnografischen und religiösen Kontexte ein-

etwas entstehen, wo es vorher nichts gab« (Caillé 2008: 218).

zuordnen und ihre weltweit sehr vielschichtige Praxis zu regist-

Solche Handlungen ermöglichen, wieder Vertrauen aufzubauen,

rieren. Dabei mögen egoistische Gratifikationen eine Rolle spie-

wo zuvor nur Misstrauen herrschte. Arendt hat sich intensiv mit

len, doch bleiben jene originären Aspekte uneigennütziger Sorge,

dem Verzeihen befasst, weil es den neuen, unberechenbaren An-

Unterstützung und Förderung vordringlich, die jenseits konkreter

fang erlaubt. Sie griff damit ein christliches Motiv auf, wobei sie

Transfers eine generelle »Liebe zur Menschheit«, so die wörtliche

die Erfahrung der Urgemeinde der Jünger Jesu historisierte und

Übersetzung des Begriffs Philanthropie, zum Ausdruck bringen.

säkularisierte; die personale Liebe Jesu interpretierte sie in ei-

Hier liegen die wesentlichen Unterschiede zu marktlich-unter-

nem »durchaus diesseitigen Sinne«, der auch über die individu-

nehmerischen wie zu staatlich-politischen Aktivitäten, wobei sol-

elle und private Relation zwischen einem Schuldigen und dem,

che durchaus auch im Philanthropie-Geschehen eine Rolle spie-

der ihm vergibt, hinausgeht. Wesentlich war ihr, dass beide Sei-

len, wenn philanthropische Unternehmungen professionalisiert

ten ihre Freiheit, neu zu beginnen, erhalten; von den langfristi-

werden.

gen Folgen einer schlimmen Vergangenheit oder Tat werden diejenigen befreit, denen verziehen wird, aber eben auch diejenigen,

Wenn Philanthropie in materieller Hinsicht durch die radikale

die verzeihen. Genau wie das Strafen leugnet Verzeihen nicht das

Asymmetrie der Interaktionsordnung charakterisiert ist, stellt

Unrecht einer Tat, aber es unterbricht eine verhängnisvolle Spi-

das ihren Bezug zum Gabentheorem nicht in Frage. Problema-

rale der Fixierung auf diese schuldbeladene Vergangenheit.

tisch ist eher, dass sich anders als bei steuerfinanzierten Sozialtransfers und ähnlich wie bei geschäftlichen Transaktionen se-

Der Zusammenhang von Reparationsleistungen und »Aufarbei-

lektive und inegalitäre Präferenzen durchsetzen können und es

tung der Vergangenheit« bzw. transnationaler Gerechtigkeit in

häufig an einer öffentlichen Rechenschaftspflicht mangelt. Die

der Folge von Kriegs- und Staatsverbrechen, ethnischen Säube-

Definition von »Bedürftigkeit« der zu unterstützenden Gruppen

rungen und dergleichen, also die moralische wie materielle Kom-

kann durch ethnische, religiöse, ästhetische und andere Vorurtei-

pensation vergangenen Unrechts, hat seit der Holocaust-Debatte

le und Stereotypen bestimmt sein, was an sich nicht verwerflich

in den 1980er Jahren zu einer weltweiten Entschädigungsbe-

sein muss, in der Gesamtbilanz aber soziale Ungleichheiten ver-

wegung geführt. Sie reicht bis zur historischen Sklaverei zurück,

schärfen und ungewollt oder kontraintentional Diskriminierun-

schließt die Vertreibung und Ausrottung indigener Bevölkerun-

gen Vorschub leisten kann.

gen sowie Kolonialverbrechen ein und zahlreiche Völkermorde, aber auch die anhaltende Kampagne zur Restitution von Raub-

4. TRANSNATIONALE BüRGERSCHAfT

kunst verschiedener Spielarten. Ohne dies hier näher ausführen zu können, ist es vermutlich reizvoll, solche globalen Interaktio-

Wie eine indirekte Gabe unter diesem Aspekt aussehen kann,

nen nicht nur unter völkerrechtlichen, geschichtspolitischen und

zeigt schließlich die von den Vereinten Nationen angeregte und

moralischen Aspekten zu diskutieren, sondern sie ex negativo

in mehreren Konventionen postulierte Einbürgerung von Staa-

auch unter dem Gaben-Theorem zu betrachten: Gewaltsame Ent-

tenlosen. Nach einer Berechnung des UNHCR in Genf sind im

wendungen und Massentötungen werden durch moralische An-

Jahr 2014 mindestens zehn Millionen Menschen staatenlos, d. h.

erkennung und materielle Kompensation unter dem Aspekt einer

sie besitzen nicht die Staatsangehörigkeit des Landes, in dem

inklusiven Kooperation »wiedergutgemacht«.

sie sich aufhalten. Das schränkt den Zugang zu Bildung, Gesund-

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ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

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heitsversorgung und Arbeitsmarkt sowie die Bewegungsfreiheit

liegen, hier die Verleihung einer europäischen Staatsbürgerschaft

erheblich ein und schafft die dauernde Angst, ausgewiesen zu

zu erleichtern und Staatenlosigkeit zu beenden.

werden. Die meisten Staatenlosen sind Opfer von jüngerer ethnisch und religiös motivierter Diskriminierung, der ganz über-

Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Version des Bei-

wiegende Teil ist vor Krieg und Bürgerkrieg geflüchtet. Die Zahl

trags in Frank Adloff / Volker Heins (Hg.), Konvivialismus. Eine

der Staatenlosen wächst nicht nur aus diesen Fluchtgründen,

Debatte, Bielefeld 2015.

sondern auch deshalb, weil (nach Aussage des UNHCR) »alle zehn Minuten […] irgendwo in der Welt ein staatenloses Kind geboren (wird)«, sich der extralegale Status also von Generation zu Generation vererbt und dauerhaft werden kann.

CLAUS LEGGEwIE

ist ein deutscher Politikwissenschaftler.

Er ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und Mitherausgeber der Zeitschrift Blätter für deutsche und

Es müsste für eine europäische Gemeinschaft, die sich historisch

internationale Politik. Er hat zahlreiche Bücher zu globalen

bis in die jüngste Zeit durch koloniale Verbrechen und ethnische

Fragen der Gegenwart publiziert.

und politische Säuberungen verschiedener Art kompromittiert hat, die aber gleichzeitig auf eine phänomenale Erfolgsgeschich-

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

te supranationaler Einigung zurückblicken kann, auf der Hand

November 2015

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I Das vom revolutionären brasilianischen Theatermacher Augusto Boal begründete »Theater der Unterdrückten« scheint für die Verhältnisse in Ägypten wie gemacht. Die bekannte ägyptische Aktivistin und Theatermacherin Nora Amin erzählt, wie dieses Theater funktioniert und was es in Ägypten leisten kann.

DAS THEATER DER PARTIZIPATION Das Projekt eines »theaters Der UnterDrückten« für ÄgyPten VON

NORA AMIN

Mein erstes Zusammentreffen mit dem brasilianischen Theatermacher und

Volkshelden

Augusto

Boal

(1931–2009) fand im Jahr 1997 in Ägypten statt. Ich hatte gerade die Übersetzung seines Buches Der Regenbogen der Wünsche ins Arabische abgeschlossen, erschienen unter dem nüchternen Titel Manhag Augusto Boal al-masrahi (»Die Theatermethode von Augusto Boal«) – natürlich unter Vermeidung des wohl als zu anstößig empfundenen arabischen Wortes raghba (= Wunsch, Begierde). Zu jener Zeit war ich als Dozentin an der Kairoer Kunstakademie und Übersetzerin tätig, gleichzeitig auch als Autorin, Schauspielerin

und

Theaterregis-

seurin. Die Arbeit an der Übersetzung dieses Standardwerks aus der Methodenreihe des Theaters der

Szene aus einem

Unterdrückten hatte mir erstmals die Augen für eine ganz andere

Was mir dabei überhaupt nicht bewusst

Theaterwelt geöffnet. Nun ermöglichte mir das persönliche Ge-

war: Es existierte bereits ein ganzes

Nora Amin.

spräch mit Boal, das Zusammenspiel von Theaterperformance

Genre, das sich abseits der Ästhetik des

Foto: La Musica /

und gesellschaftlicher Veränderung in seiner ganzen Dimension

herkömmlichen Theaters diesem Ansatz

Nora Amin

zu erfassen.

verschrieben hatte, nämlich das Theater

© Goethe-Institut

Theaterstück von

der Unterdrückten. Hier erst lernte ich IM MINENfELD DER UNTERDRüCKUNG

die politische, interaktive und pädagogische Dimension eines auf gesellschaftlichen Wandel ausgerichte-

Damals hatte ich mich ganz einem auf ästhetische Wirkung aus-

ten Theaters kennen. Meine Suche war an ihr Ziel gelangt.

gerichteten Theater verschrieben. Mein Ziel war es, schrittweise ein neues Kapitel im Experimentieren mit körperlichen

Zwischen Boal und mir entwickelte sich eine wunderbare Freund-

Ausdrucksformen aufzuschlagen, also meine Erfahrungen als

schaft. Im Jahr 2003 reiste ich mit einem UNESCO-Stipendi-

Tänzerin und Choreografin mit meinen Erfahrungen als Schau-

um für Nachwuchskünstler nach Brasilien, um mich am Centro

spielerin und Schriftstellerin zu kombinieren. Es ging mir darum,

de Teatro do Oprimido in Rio de Janeiro vom Meister Augusto

eine Sprache zu finden, die alles ans Licht zu bringen vermoch-

Boal persönlich sowie von seinem Team ausbilden zu lassen. Da-

te, was an Zwang, Repression und Unfreiheit unter den Teppich

mals hatte ich bereits meine eigene unabhängige Theatergrup-

gekehrt worden war. Ich wollte im Minenfeld der Unterdrückung

pe »La Musica« gegründet, hatte mit dieser eine Reihe von Auf-

herumstochern, so wie andere der Generation der 90er Jahre.

tritten gehabt und verschiedene Teile der Welt bereist. Doch die

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Reise nach Brasilien war für mich ein qualitativer Sprung in mei-

Straße zu gehen und ungezwungen und spontan mit den Men-

ner Wahrnehmung der Welt, Ägyptens und der Möglichkeiten ei-

schen zusammenzukommen, auf Straßen, auf Plätzen, in Parks,

ner Einbindung des Theaters in die Praktiken der gesellschaftli-

auf Schulhöfen, in Jugendzentren, in Sport- und Nachbarschafts-

chen und politischen Transformation. Ich sah die Ähnlichkeiten

vereinen. Dann würde die Theaterbühne ihren Platz im öffentli-

zwischen Brasilien und Ägypten, sah eine Geschichte von Unter-

chen Raum einnehmen und zu einem Forum des demokratischen

drückung und totalitärer Herrschaft, von revolutionärem Aufbe-

Handelns und der Partizipation werden. Von zentraler Bedeu-

gehren und Triumph. Ich sah den Volkshelden Boal, der in den

tung war für mich, dass mit der Theaterperformance quasi das

70er Jahren Widerstand geleistet hatte, inhaftiert und gefoltert

Recht der Bürger proklamiert und bezeugt wird, ihre Meinung zu

worden war. Nur durch den Gang ins Exil blieb ihm die Todes-

äußern und in die Auseinandersetzung mit dem Thema Unterdrü-

strafe erspart. Später kehrte er zurück und beteiligte sich zusam-

ckung miteinbezogen zu werden. Um es mit den Worten Boals zu

men mit Paulo Freire an der geistigen Befreiung der unterdrück-

sagen: Das Theater – mit all seinen Entwürfen für revolutionäre

ten Bevölkerung sowie an ihrer pädagogischen Neuorientierung

Veränderungen – ist nicht die eigentliche Revolution, sondern nur

mithilfe des Theaters. Dadurch sollte sie sich von repressiven

deren Generalprobe.

Denkmustern und dem darin innewohnenden System freimachen können, damit ein solches Regime sich nicht mehr würde repro-

THEATER ALS SPIEGEL DER GESELLSCHAfT

duzieren können. Das ägyptische Theater war über Jahrzehnte hinweg ein TheaDie Methode des Theaters der Unterdrückten beruht auf fünf

ter gewesen, das auf demselben kognitiven und ideologischen

grundlegenden Techniken: dem Bildertheater, dem Zeitungsthe-

System basierte wie dasjenige, welches sich das herrschende Re-

ater, dem unsichtbaren Theater, dem Forumtheater und dem le-

gime und die traditionelle Gesellschaft zu eigen gemacht hatten.

gislativen Theater. Sie alle zielen darauf ab, den Zuschauer einzu-

Es war ein Theater gewesen, das überwiegend klassenbasierten

beziehen, aus ihm einen mehr oder weniger aktiv Handelnden zu

Vorstellungen von Erkenntnisvermittlung anhing. Diese erfolg-

machen. Die Theateraufführung soll zu einer Performance wer-

te immer nur in eine Richtung: von den Brettern der Bühne hin

den, die jedes Mal aufs Neue entwicklungsoffen gegenüber den

zum Publikum. Es existierte eine klare räumliche Trennung und

Interventionen der Zuschauer ist. Die Theaterbühne verwandelt

ein ebenso klares Wissensgefälle zwischen der Theaterbühne

sich in ein Forum für Kritik, in einen Raum für lebendige Interak-

und den Zuschauerplätzen. Alle Facetten der gesellschaftlichen

tion mit den Zuschauern. In diesem Sinne sind die beiden letztge-

Scheinheiligkeit waren beizubehalten, indem man sie innerhalb

nannten Techniken die interaktivsten.

des Systems Theater und seiner dramaturgischen Mittel repro-

BRASILIANISCHE IDEEN, UMGESETZT IN äGyPTEN

keit, der Ideologie des Regimes, der Glorifizierung des einzigarti-

Als Theatertheoretiker und zugleich politischer Aktivist wuss-

Pharaonenverehrung. Und es traten ästhetische und künstleri-

te Augusto Boal aus eigener Erfahrung, dass der Sturz eines dik-

sche Vorgaben auf den Plan, welche die Einteilung der Bürger in

tatorischen Regimes oder die Auswechslung dessen Führungsfi-

Kulturschaffende und Intellektuelle einerseits und eine stumme,

duzierte. Das Theater fungierte oft als Sprachrohr der Obriggen, heldenhaften Herrschers – ganz im Sinne unserer Kultur der

gur noch keine wirkliche Befreiung des Bürgers mit sich bringt,

passiv rezipierende Herde andererseits zementierten. Vor die-

der so lange unter dem Vorzeichen einer Ideologie der Unter-

sem Hintergrund musste »Partizipation« als Bruch mit den alt-

drückung gelebt hat. Da er nichts anderes kennt, ist solch ein

hergebrachten Traditionen und als Verstoß gegen den Kodex der

Bürger letztendlich Garant für die Reproduktion des Unterdrü-

kollektiven gesellschaftlichen Konventionen erscheinen.

ckungssystems: Es ist für ihn zu einer ganz selbstverständlichen Denkschablone geworden. Deshalb muss die Revolution

Dennoch war Ägypten beim Übergang ins dritte Jahrtausend

vertieft werden, und zwar nicht nur mittels politischer Aktion,

gut vorbereitet auf Veränderungen – zum einen dank des Bei-

sondern mittels kulturellen, didaktischen und sozialen Handelns,

trags der 90er-Generation zur Kulturszene und zum gesellschaft-

also mittels Schaffung eines umfassenden pädagogischen Sys-

lichen Wandel, zum anderen dank des Aufkommens einer Reihe

tems, welches eine neue Geisteshaltung bei den Menschen her-

von engagierten und zielstrebigen zivilgesellschaftlichen Organi-

vorzubringen vermag. Nur so können demokratische Partizipati-

sationen. Ursache dafür war die Häufung staatlicher Willkürakte

on, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit gewährleistet werden.

sowie eine völlig veränderte individuelle Einstellung in der jün-

Ich bemühte mich beharrlich darum, das Gelernte in Ägypten

schaftlicher und politischer Ereignisse. Aber das Haupthindernis

umzusetzen. In Zusammenarbeit mit engagierten Nichtregie-

war ohnehin nicht die Bevölkerung selbst, sondern das repres-

rungsorganisationen führte ich Trainings im Rahmen mehrerer

sive politische System. Ägypten stand unter der Notstandsge-

geren Generation vor dem Hintergrund einschneidender gesell-

recht erfolgreicher Workshops durch. Doch blieb mein eigentli-

setzgebung, Straßenaufführungen waren aus Sicherheitsgründen

cher Traum zwischen 2008 und 2010 noch unerfüllt: Raus auf die

verboten und reine Wunschvorstellung. Die Vorstellung einer in-

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

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teraktiven Partizipation und einer Situierung des Theaters im öf-

Szenen aus, zieht vielleicht sogar das ein oder andere Accessoire

fentlichen Raum war an sich schon eine rebellische, aufrühre-

der Figur an. Dann macht der vorherige Schauspieler die Büh-

rische Idee, die eines politischen, revolutionären, patriotischen

ne für ihn frei. Dass der Zuschauer den Platz des Unterdrückers

Moments bedurfte, um ihr den Weg zu bahnen. Und genauso

einnimmt, kommt natürlich nicht in Frage, denn ein Unterdrü-

kam es dann auch mit der Revolution vom 25. Januar 2011.

cker macht schließlich nicht einfach so den Platz frei, profitiert er doch am meisten von der Aufrechterhaltung des Zustands der

THEATER DER UNTERDRüCKTEN IN äGyPTEN

Unterdrückung. Alle Beteiligten sind angehalten, die Grundprinzi-

Im Herbst 2011 rief ich das »Nationale Projekt eines Theater der

ferne Phantasielösungen vorschlagen, noch unethische Lösun-

Unterdrückten für Ägypten« ins Leben. Ich begann, in Alexand-

gen, die auf Trickserei, Lüge und Bestechung in all ihren Formen

pien dieses Ansatzes zu respektieren, indem sie weder realitäts-

ria eine Gruppe von Aktivisten auszubilden, die ihrerseits nach

beruhen, noch solche, die auf physischer Gewalt basieren. Diese

und nach zu meinen Assistenten und schließlich zu selbstständi-

würden den Teufelskreis der Unterdrückung nur noch weiter an-

gen Trainern werden sollten. Mein Plan war es, ein landesweites

heizen und schließlich sogar den Unterdrückten zum Unterdrü-

Netzwerk zu schaffen, in dem alle, die das Forumtheater prak-

cker machen.

tizierten, vertreten sein sollten. So würde jede Stadt bzw. Provinz über ein lokales Ensemble verfügen, welches Forumtheater-

Indem der Zuschauer spontan zu improvisieren versucht, hat er

Aufführungen würde darbieten und womöglich sogar zusätzliche

im Grunde genommen bereits begonnen, sich mental auf die Ver-

Mitstreiter für das Ensemble würde ausbilden können. Ferner

änderung der Verhältnisse einzustellen, denn er hat die alten

waren ein Austausch mit den anderen Ensembles und Gruppen

Muster der Gleichgültigkeit, der Passivität und der Überzeugung

und eine interne Rotation geplant. Auf diese Weise schien mir die

von der Unmöglichkeit einer Veränderung durchbrochen. Statt-

Schaffung einer Theaterbewegung im Dienste des gesellschaft-

dessen kann er nun eine Mentalität des positiven und freien Den-

lichen Wandels und unter Vermeidung des Kairoer Zentralismus

kens, der Selbstkritik und des Glaubens an die Willenskraft und

möglich zu sein.

Würde des Menschen entwickeln. Und was noch wichtiger ist:

Im Unterscheid zu anderen Genres des Volks- und Straßenthea-

symbolisch und zeitlich begrenzt. Das bedeutet, wenn er in Zu-

ters setzt sich das Forumtheater direkt und konkret mit Situatio-

kunft mit einer ähnlichen Situation konfrontiert ist, wird er in der

Dieser Zuschauer ist aktiv geworden, wenn auch zunächst nur

nen der Unterdrückung auseinander. Es dient nicht dem Spekta-

Lage sein, diese aktive Haltung wieder einzunehmen. Wir sollten

kel, der leichten Unterhaltung oder der Belustigung, sondern soll

auch nicht vergessen, dass all dies sich vor den Augen des Pu-

sich positiv auf unser Alltagsleben, unser Bewusstsein und un-

bliku*ms und im öffentlichen Raum abspielt. Somit wird der Zu-

ser Denken auswirken, indem es uns eine bessere Realität erle-

schauer selbst mit seinen spezifischen Ideen zum Mitgestalter

ben lässt. Es handelt sich um ein Theater, das äußerst schlichte

der öffentlichen Sphäre. Davon zeugen die Reaktionen der ande-

Unterdrückungsszenarien präsentiert. Doch sind es reale, nach-

ren Zuschauer, welche sich nach und nach der Transformation der

vollziehbare Situationen aus der Lebenswirklichkeit der Zuschau-

Theatervorstellung in einen offenen Workshop, in ein demokra-

er. Aber damit nicht genug: Es macht die Bühne frei für den akti-

tiepädagogisches Spiel bewusst werden. Sie gewinnen ihre Stim-

ven Zuschauer, der an der Aufführung partizipieren kann, indem

me zurück, wodurch die öffentliche Sphäre und zivilgesellschaft-

er selber Vorschläge präsentiert, wie man sich gegen die stattfin-

liche Strukturen wieder neu entstehen können.

dende Unterdrückung zur Wehr setzen, sie transformieren, vermeiden oder ihr zumindest Grenzen setzen kann.

Mag sein, dass die Vorschläge der Zuschauer nicht (ja nicht einmal ansatzweise) zur Überwindung der Unterdrückungssituati-

EINGREIfEN DER ZUSCHAUER

on führen, doch ist der Weg dahin das Ziel. Es geht nicht um eine

Das funktioniert so: Zunächst führt der »Joker« (der Moderator

lung abblasen und alle wieder nach Hause schicken. Vielmehr

endgültige Lösung des Problems. Sonst könnte man die Vorstelder Theatervorstellung) einen Dialog, eine Debatte mit dem Pu-

geht es darum, es immer und immer wieder zu versuchen und

blikum, bis ein Zuschauer freiwillig eine Idee präsentiert. An die-

heterogene, ergebnisoffene Perspektiven für neue Vorschläge

sem Punkt insistiert der Joker, dass man die Idee nicht auspro-

anzubieten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen,

bieren kann, indem man sie vorträgt, sondern nur, indem man

dass die Schauspieler und die sonstigen am Forumtheater betei-

sie praktisch anwendet. Indem man also zu den Schauspielern

ligten Künstler sich intensiv vorbereiten, und zwar nach präzise

auf die Bühne steigt und die Idee im Rahmen der Szene auspro-

festgelegten, systematischen Techniken, wie sie Augusto Boal er-

biert. Daraufhin wählt dieser Zuschauer eine unterdrückte Fi-

arbeitet hat. Dadurch sind sie zur spontanen Improvisation mit

gur aus dem Theaterstück, deren Platz er einnehmen möchte, da

dem Zuschauer in der Lage, für den Fall, dass dessen Vorschlag

sie ihm am geeignetsten für die Umsetzung seiner Idee erscheint.

zu Abweichungen von der ursprünglich vorgesehenen Handlung

Er sucht sich einen bestimmten Moment innerhalb der gezeigten

führt. Jene Techniken helfen dem Schauspieler, sich die Philo-

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

16

sophie der Unterdrückung und die methodischen Prinzipien des

Beschimpfungen drangsaliert. Dann verbietet er ihr jeglichen

Theaters der Unterdrückten mit hoher Professionalität anzueig-

Schulbesuch, ja überhaupt das Haus zu verlassen, wodurch er ihr

nen. Dadurch kann er improvisieren, ohne gegen die Methode

jede Chance auf eine bessere Zukunft raubt.

zu verstoßen, und motiviert so den Zuschauer dazu, von seinen Träumen ausgehend ein konkretes Ziel zu entwerfen.

Das Publikum brachte sich vom ersten Moment an mit ein. Das patriarchale System ging ja historisch gesehen stets Hand in

Das »Nationale Projekt eines Theaters der Unterdrückten für

Hand mit repressiven politischen Systemen aller Art, und stets

Ägypten« wird getragen von 55 Aktivisten aus ungefähr 30

musste die Frau den Preis dafür bezahlen. Eine Zuschauerin, eine

ägyptischen Städten, welche die meisten Provinzen Ägyptens ab-

Mutter Anfang 50, schlug als Lösung vor, die Familie solle ge-

decken. Unterstützt wurde das Projekt von mehreren NGOs und

meinsam den Vater töten. Dies stellte natürlich einen Verstoß ge-

staatlichen Organisationen, etwa im Jahr 2012 von der beim Kul-

gen unsere Methode dar, führt doch Gewalt immer nur zu neu-

turministerium angesiedelten Organisation der Ägyptischen Kul-

er Gewalt, zu einem unendlichen Kreislauf der Zerstörung. Wir

turpaläste, oder vom Arabischen Fonds für Kunst und Kultur

mussten also der Zuschauerin noch einmal die Prinzipien unseres

(AFAC), oder von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Vereini-

Ansatzes sowie die Prinzipien des gesellschaftlichen Wandels er-

gungen und Institutionen überall in Ägypten. Ferner erfuhr das

läutern, und dass wir nicht auf Rachelösungen aus seien, sondern

Projekt mit der Gründung eines pan-arabischen Netzwerks eine

darauf, den Bürgern eine neue Mentalität zu vermitteln. Für die

Ausweitung. Darin sind Personen zusammengeschlossen, die von

Zuschauerin und alle anderen schien in dem Moment der Vater in

uns im Libanon und in Marokko nach unserer Methode ausgebil-

dem Stück den tyrannischen Herrscher zu repräsentieren. Folg-

det worden sind. Im Laufe der Jahre 2011, 2012 und 2013 arbei-

lich bestand ihre spontane Reaktion darin, ihre Wut auf die pat-

tete das Projekt mit äußerst unterschiedlichen Personengruppen

riarchale Herrschaft mit ihrer Rebellion gegen den tyrannischen

zusammen (unterschiedlich nicht nur in geografischer, sondern

Herrscher zu verquicken. Die gewohnte Mentalität der Unterdrü-

auch in jeglicher anderer Hinsicht): Da gab es Studierende, An-

ckung verleitete sie also zu einer Rachelösung. Doch kurz darauf

gestellte, Rentner, Künstler, Schauspieler, Kulturaktivisten und

erklomm sie die Bühne und erkannte im Zuge der spontanen Per-

Leute, die ehrenamtlich am Aufbau der modernen ägyptischen

formance und der Zusammenarbeit mit den Schauspielern, dass

Zivilgesellschaft mitarbeiteten. Sie alle waren Bürgerinnen und

es noch eine weitere Möglichkeit des Wandels gibt, nämlich die

Bürger, die an die Möglichkeit des Wandels glaubten und damit

des Aushandelns und der Nutzung der im Skript eines solchen

die einzige Bedingung erfüllten, um bei dieser Art von Theater

Theaterstück versteckten »Inseln des Wandels«. Von seiner Kon-

mitmachen zu können, sei es als Performer oder als Zuschauer.

zeption her hält das Skript nämlich stets potenzielle Möglichkeiten für den Zuschauer bereit, die Situation bis zu einem gewissen

UNTERDRüCKUNG IN DER fAMILIE

Grad zu verändern.

Im Februar 2013 präsentierten wir als Beitrag zum monatlich auf

Im interaktiven Theater nennt man diese Art, ein Skript aufzu-

dem Abdin-Platz im Zentrum Kairos sowie auf einigen anderen

bauen, »Dramaturgie des Forumtheaters«. Dabei geht es ganz

Plätzen in den Provinzen stattfindenden Kunstfestival »El-Fann

klar darum, das Spielfeld nicht exklusiv den Machern des Stücks

Midan« (»Kunst ist ein Platz«) das Theaterstück »Hikaya Samah«

zu überlassen, es nicht mit einer Aura des Unantastbaren zu um-

(»Die Geschichte von Samah«) von unserer Gruppe aus Alexan-

geben, sondern Möglichkeiten der Partizipation und der Trans-

dria. Darin geht es um die sechzehnjährige Samah, die von ih-

formation offen zu lassen. Deshalb sollten wir allen Geschichten

rem Vater gezwungen wird, zu Hause zu bleiben, und dadurch

und Stücken eine Entwicklungsdynamik gestatten, ohne dem Zu-

am Schulbesuch gehindert wird. Er verbietet ihr sämtliche gesell-

schauer vorzuschreiben, was er ausprobieren darf und was nicht.

schaftlichen Aktivitäten, ja er scheint sie auch zum Tragen des

Bei dieser Art von Theater soll sich der Zuschauer in allerers-

Kopftuchs zu zwingen. Es ist ein autoritärer Vater im wahrsten

ter Linie seine Freiheit bewahren können. Das geht so weit, dass

Sinne des Wortes, dessen Befehlen sich alle Familienmitglieder

wir den Zuschauer nicht zur Veränderung der Unterdrückungs-

bedingungslos unterwerfen müssen: die Mutter, deren Existenz

situation drängen wollen, falls er von der Notwendigkeit ihrer

völlig im Schatten des Ehemanns steht; der älteste Sohn, der sich

Beibehaltung überzeugt sein sollte. Denn ein wirklicher Wandel

beim Vater schlicht und einfach einschleimt. Samah geht auf eine

kann nicht stattfinden, wenn er den Bürgern aufgezwungen wird.

Geburtstagsfeier ihrer Freundin aus Kindheitstagen und Nachba-

Dann würden wir sie ja – im Namen der Befreiung – nur erneut

rin Muna, Tochter eines verstorbenen Freundes des Vaters. Dies

ihrer Freiheit und ihres Willens berauben.

geschieht ohne Wissen des Vaters, doch mit der Komplizenschaft der Mutter, die ihre Tochter heimlich unterstützt. Der Sohn be-

THEATER GEGEN POLIZEILICHE wILLKüR

kommt von der Sache Wind, als er Samah aus Munas Haus kommen sieht, obendrein unverschleiert. Er zieht sie an den Haaren

Auch in Port Said führten wir Straßentheater auf, was an die-

nach Hause, wo der Vater sie und die Mutter mit Schlägen und

sem vom Regime »Heldenstadt« genannten Ort eine Premie-

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

17

re darstellte. Für das Publikum war es etwas komplett Neues. In

schien sehr interessiert. Es gelang uns, ihn zum Mitmachen zu

Port Said herrschte ein wildes Durcheinander gegensätzlicher

animieren, doch musste er sein Messer abgeben, um an der Auf-

Bewegungen und Strömungen. Die Straßen glichen einem Meer,

führung teilnehmen und zusammen mit den Schauspielern im-

in dem die Überbleibsel des Mubarak-Regimes, Sicherheitsleu-

provisieren zu können. Dies stellte ihn vor eine extrem schwieri-

te des Innenministeriums, angeheuerte Schlägertrupps, Muslim-

ge Entscheidung, denn sein Messer war für ihn Identität, Schutz,

brüder, normale Bürger aus alteingesessenen Familien und libe-

Beruf. Er befand sich offenbar in einer beträchtlichen existentiel-

rale Jugendliche gegeneinander anbrandeten. Wir präsentierten

len Zwangslage. Die Anerkennung, die er erfuhr, tat ihm sichtlich

das Stück »Geschichte vom Bürger und dem Spitzel«. Darin geht

gut. Die Gruppe behandelte ihn vor dem restlichen Publikum wie

es um die Geschichte eines einfachen jungen Mannes, der zu-

einen Ebenbürtigen, so dass in ihm ein neues Selbstwertgefühl

sammen mit seiner Verlobten an der Uferpromenade von ei-

als gleichberechtigter Bürger aufzukeimen schien. Doch würde

nem Spitzel festgenommen und, obwohl völlig unschuldig, auf

das für ihn als Motiv ausreichen, um sich auf diese Weise vor al-

die Polizeiwache gebracht wird. Dort begegnen wir einem kor-

len zu entblößen?

rupten und gewalttätigen Polizisten und seinem weniger korrupten, aber durch und durch servilen Kollegen. Dieser weniger bru-

Und tatsächlich: Es gelang diesem Zuschauer, sich von seinem

tale Beamte lässt das minderjährige, in Schuluniform gekleidete

Messer zu trennen. So konnte er an der Aufführung teilnehmen

Mädchen laufen, nachdem er es zuvor barsch gemaßregelt hat,

und gemeinsam mit den Schauspielern eine improvisierte Szene

während sie die Zudringlichkeiten des korrupten Polizisten über

darbieten, die einen Weg aufzeigte, wie jener unterdrückte jun-

sich ergehen lassen musste. Dann wird der Junge völlig willkür-

ge Mann aus dem Stück dem Tod entgehen konnte, ohne selber

lich in ein steinernes Verlies geworfen, wo er auf einen Revolu-

zu töten oder Gewalt anzuwenden. Seine Auseinandersetzung mit

tionär trifft. Dieser fordert ihn auf, ruhig zu bleiben, die gesetz-

der »Geschichte des Bürgers und des Spitzels« im Rahmen des

lich vorgesehenen Mittel auszuschöpfen und um anwaltlichen

Forumtheaters war für diesen Zuschauer ein Versuch, sich neu

Rechtsbeistand zu bitten. Dann taucht der Spitzel, »Abu Sayed«,

zu erfinden. So als würde er in seiner Phantasie für einen Au-

erneut auf und demütigt die beiden Jugendlichen in provokato-

genblick in die Vergangenheit reisen, mit der Aussicht, danach

rischer und niederträchtiger Weise. In dieser extrem aufgeheiz-

der Gegenwart mit einer anderen Einstellung gegenübertreten zu

ten Situation kommen die beiden Offiziere herein. Der Junge for-

können. In diesem Moment vergaßen wir alle Sorgen um uns he-

dert sie heraus, schreit ihnen ins Gesicht, woraufhin einer von

rum. Der ganze Platz schien in einem harmonischen Sich-treiben-

ihnen, »Hazem Basha«, den Spitzel anweist, den Jungen zu erle-

lassen begriffen. Die »Schnüffel«-Kinder bekamen große Augen;

digen. Als jener sich mit seinem Knüppel auf den Jungen stürzt,

ihr älterer Kollege hatte ihnen eine Mahnung mit auf den Weg ge-

versucht der andere Junge, ihn zu verteidigen. Hier bricht die

geben und eine Möglichkeit aufgezeigt, den Teufelskreis der Un-

Handlung ab.

terdrückung in Zukunft zu durchbrechen.

Die Tatsache, dass unsere Wahl gerade zu der Zeit auf dieses

Der Mann lächelte und verließ die Bühne. Beinahe hätte er sein

Stück gefallen war, war der Hauptgrund für seinen Erfolg. Der

Messer vergessen. Doch dann durchfuhr es ihn und er erinner-

massenhafte Zuspruch wog die Zwistigkeiten sowie die politi-

te sich plötzlich wieder daran. Vielleicht war die Zeit noch nicht

schen und psychologischen Spannungen innerhalb des Publiku*ms

reif für ihn, sich endgültig davon zu lösen und voll und ganz dem

auf. Alle hatten Unterdrückung kennen gelernt und erkannten,

Traum zu vertrauen.

dass man diese Situation dringend ändern musste. Es saßen ein paar grimmige Agenten der Sicherheitsbehörden im Publikum, die sich jedoch ruhig verhielten. Den ganzen Platz unter Kontrol-

NORA AMIN

lebt und arbeitet in Kairo.

le zu halten, war äußerst schwierig und bildete einen maßgebli-

Sie ist Schriftstellerin, Performerin, Choreografin und

chen Bestandteil meines Aufgabenspektrums, trug ich doch die

Theaterregisseurin. Amin hat drei Romane, vier Sammlungen

Verantwortung für die Sicherheit aller und für den bestmögli-

von Kurzgeschichten und ein Hörbuch geschrieben

chen Verlauf der Veranstaltung. Es gab innerhalb des Publiku*ms

sowie 15 Bücher zu Theater und Tanz übersetzt.

eine geringe Zahl von Drogenkonsumenten, sowie einige Straßenkinder, die Klebstoff schnüffelten. Auch saß dort ein baltagi,

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

ein vom Regime angeheuerter Schläger, mit seinem Messer und

November 2015

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

18

I  Das islamische wirtschaftswissenschaftliche Denken enthält seit alters her zahlreiche Elemente, die auch heute noch Lösungen zu aktuellen wirtschaftlichen Fragen bieten. Gemäß islamischer Lehre lassen sich Gewinnstrebung und soziale Rücksichtnahme harmonisch vereinbaren. Wie diese Harmonie der wirtschaftlichen Akteure begründet wird und sich herstellen lässt, erklärt Souheil Thabti.

Sharing und Caring Islamische Ideen zum gerechten Wirtschaften heute VON  SOUHEIL THABTI

Das gegenwärtig herrschende Verständnis vom freien Markt

maßen – also jeder Teil unseres Körpers – hätten die Freiheit,

neoliberalistischer Prägung erlaubt es Personen natürlicher oder

selbst bestimmen zu können, was sie tun wollen, und sie wür-

juristischer Natur, Eigentum über nahezu alle Ressourcen und

den sich so verhalten, wie es ihnen beliebt. Angenommen das

Güter zu erlangen; somit das Recht, andere von der Verfügung

linke Bein entscheidet sich links zu gehen, das rechte hingegen

auszuschließen. An Rohstoffen wie Öl zeigen sich die Auswirkun-

nach rechts. Die Frage, in welche Richtung sich dann der gesam-

gen dieses Verständnisses sehr deutlich. Eine Handvoll Familien

te Körper bewegt, ist leicht zu beantworten: nirgendwohin. Oder

bzw. Unternehmen verfügt über diesen Rohstoff und ist so qua

angenommen, dass das Gehirn aufgrund einer Verletzung Blut

Gesetz berechtigt und ermächtigt, andere – in dem Fall den Rest der Gesellschaft – von den generierten Erträgen und den erzielten Gewinnen auszuschließen. Dieses Konzept hat unsere Welt in einer dramatischen Weise geprägt. Laut einer Oxfam Studie über die weltweite Vermögensverteilung wird voraussichtlich 2016 das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen angehäuft haben als die restlichen 99 %. Der Reichtum wächst zudem so stark wie noch nie. Das Privatvermögen beläuft sich auf über 160 Billionen US-Dollar. Und die weltweite Nahrungsmittelproduktion ist groß genug, die gesamte Weltbevölkerung mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Und doch leben laut dem UNDP 2014 (UN Development Program) andererseits über 1,5 Milliarden Menschen in mehrdimensionaler Armut. Das heißt, es mangelt ihnen an Nahrung, Gesundheitsversorgung, Bildung und Lebensstandard. Die Umverteilung findet also weniger von Reich zu Arm statt, als vielmehr von Arm zu Reich. Die Menschheit als Körper Wir müssen uns daher die grundsätzliche Frage stellen, ob wir Menschen uns ganzheitlich als einen Körper sehen wollen, der sich weitgehend gesund entwickelt, oder ob jeder von uns individualistisch die von den anderen bewirkten Nachteile hinnehmen soll und sein Leben

Die Türme der

getrieben von Eigennutz gestalten

ägyptischen National-

will? Ein Gedankenspiel zur Veran-

bank in Kairo.

schaulichung der Problematik: Ange-

Foto: Stefan Weidner

nommen unsere Organe und Glied-

© Goethe-Institut

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

19

und Sauerstoff benötigt, die zuständigen Organe, also das Herz

oder der für eine Dauer gegeben wird, die der Begünstigte benö-

und die Lunge, die Hilfe aber verweigern oder nur dann anbieten,

tigt, um wieder selbst arbeiten zu können.

wenn das mittellose Gehirn eine Gegenleistung erbringt, die es in diesem Moment nicht erbringen kann, stellt sich die Frage nach

Die zweite Form der wirtschaftlichen Beziehung ist von einem

der Überlebensdauer eines solchen Körpers.

korrespondierenden, gleichwertigen Tausch geprägt – sofern man beim heutigen Geld von Gleichwertigkeit gegenüber den da-

Zu Hunderten, zu Tausenden und bald zu Millionen fliehen welt-

gegen eingetauschten Gütern sprechen kann. Die Tauschenden

weit Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten nach Europa, hof-

sind in einem freien Markt nicht von einander abhängig, sie kön-

fend auf ein besseres Leben. Dies ist ein gesamteuropäisches

nen andere Tauschpartner finden (Independenz). Diese Art der

Problem ungeachtet der Fragen, ob Europa mehr, weniger oder

Beziehung zielt auf Profit ab. Die Akteure verfolgen ihr Eigenin-

überhaupt Flüchtlinge aufnehmen soll und wie die Bevölkerung

teresse und stehen nicht in Abhängigkeit voneinander, weil sie

darauf reagiert. Die einen protestieren dagegen, andere Men-

ihre Bedürfnisse durch die ihnen zur Verfügung stehenden Res-

schen organisieren sich, um zu spenden, zu geben, zu helfen. Da-

sourcen befriedigen oder ihre finanziellen Mittel hierfür nutzen

bei handelt es sich bei den Helfenden nicht zwangsläufig um

können.

Wohlhabende oder Menschen, die es sich leisten können, wie die jüngsten Ereignisse auf der griechischen Insel Kos gezeigt ha-

Die dritte Beziehung ist von Kooperationen geprägt und stellt,

ben. Auch Bedürftige, die wenig haben, helfen denjenigen, die

wenn man so will, die höchste Stufe in puncto Innovation und

vergleichsweise noch weniger haben. Die Eigenschaft, geben zu

menschlicher Zusammenarbeit dar (vergleiche hierzu auch den

wollen und geben zu können, scheint dem Menschen eine na-

Artikel über Kollaboration von Mark Terkessidis im vorliegenden

türliche, eingeborene Veranlagung zu sein, die im Islam fit.ra (Instinkt) genannt wird, und die ein wesentliches Element in der is-

aber nicht zwingend nötig ist. Sie kann als eine Mischform aus

lamischen Konzeption eines ethischen und sozial nachhaltigen

den beiden bereits genannten Dimensionen angesehen werden.

Heft). Diese Ebene kann vom Gewinnstreben motiviert sein, was

Wirtschaftsverständnisses ist. Diese natürliche Veranlagung, zu

Das kooperative, reziproke Element ist dabei kennzeichnend. Das

schenken, ‚Gutes zu tun’ verdankt sich einer freiwilligen inneren

islamische Recht kennt diesbezüglich eine Reihe von Vertragsfor-

Bereitschaft.

men, die es Kapitalbesitzern und mittellosen Unternehmern ermöglichen, gemeinsame Unternehmungen gewinnorientiert und

Spenden, Tauschen, Kooperation

/ oder gemeinnützig einzugehen: die sogenannte Mudaraba, eine

Das Spenden ist eine von drei (ökonomischen) intersubjektiven

Joint Venture, oder die Sharikat al-Wujuh, eine »Gesellschaft des

Beziehungen. Der Begünstigte ist in dieser ersten Beziehung eine

guten Rufes“, um nur ein paar zu nennen.

Art stille Gesellschaft, die Musharaka, vergleichbar mit einem

bedürftige Person und vom Gebenden abhängig. Solange der Gebende nicht gibt, bleibt der Begünstigte bedürftig. Er kann sich

In jeder dieser drei Beziehungen wird in unserem herrschen-

nicht eigenständig aus seiner Bedürftigkeit herausbefördern (De-

den Wirtschaftssystem Geldverleih gegen Zins für die Befriedi-

pendenz). Wann Bedürftigkeit besteht, ist sowohl eine gesell-

gung der verschiedenen Bedürfnisse praktiziert. Folgten wir also

schaftliche wie auch eine individuelle Frage, die in Relation zu

dem herrschenden Verständnis vom Wirtschaften, das von Nut-

den anderen Gesellschaftsteilnehmern zu klären ist. Ein Parade-

zenmaximierung geprägt ist, müsste dies bedeuten, dass wir auf

beispiel dieser Beziehung sind Säuglinge und Kinder. Sie können

allen drei Beziehungsebenen stets danach streben müssen, un-

nicht eigenständig für sich aufkommen und benötigen die Unter-

seren Nutzen, der sich materiell und monetär messen lässt, zu

stützung und die Liebe ihrer Eltern, um nicht nur die materiellen

maximieren, und zwar mit dem geringsten Aufwand an Kosten.

Bedürfnisse wie Hunger und Durst zu decken, sondern vor allem

Zwangsläufig kommt dafür die Bereitstellung von Geld gegen Zin-

aufgrund ihrer seelischen Bedürftigkeit nach Liebe und Gebor-

sen in Betracht. Zudem ist der Kredit mit Eigentum zu besichern.

genheit, damit sie eigenes Selbstvertrauen entwickeln und Kraft

Die Frage, wie Menschen aus der dritten und insbesondere aus

aufbringen können, um ihre Persönlichkeit zu entfalten und spä-

der ersten Beziehungssphäre, die nichts als Sicherheit besitzen,

ter gesellschaftlich positiv wirken zu können. Bedürftigen Er-

an Kapital kommen sollen, bleibt daher offen.

wachsenen zu spenden, kann einfach nur darin bestehen, einen Geldbetrag emotionslos und ohne Anteilnahme zu geben. Oder

Denn nicht immer sind Menschen in der Lage, sich selbst zu hel-

aber es besteht in einer kraftgebenden, empathisch beladenen

fen bzw. für sich selbst zu sorgen. In diesen Fällen ist es ange-

Geste der Aufmunterung, mit der erhofften Folge, den Bedürfti-

bracht, ihnen zur Hilfe zu eilen, um ihnen die Lasten abzuneh-

gen Hoffnung und damit Kraft zu geben. Im Islam sorgt das Zakat

men. Dabei dürfen wir nicht verkennen, dass diese Hilfe eine

(Spenden)-Konzept für die monetäre Unterstützung dieser Ge-

Selbstverständlichkeit ist. Dies ist die Auffassung des Islams,

sellschaftsgruppe, die je nach Bedarf entweder einen Betrag er-

der deshalb die Gesellschaft mit einem Körper vergleicht, der

hält, der einem durchschnittlichen Jahreseinkommen entspricht

sich nur dann gesund entwickeln und entfalten kann, wenn all

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

20

seine Bestandteile im Dienst des gesamten Körpers stehen und

negative Implikationen einher: Zum einen fördert man so weiter-

sich gegenseitig unterstützen. Die Verachtung oder Ignoranz des

hin die Vorstellung, dass Schuldner ihre Schulden nicht fristge-

einen Körperteils gegenüber dem anderen widerspricht dem

recht zahlen, sobald sie von den Sicherheitspflichten entbunden

Verständnis von gesundem Wachstum und nachhaltiger Entfal-

sind. Dadurch wird das Bild vom Schuldner als einer unmorali-

tung.

schen, ihrer Pflichten nicht nachkommenden Person verfestigt. Zum anderen wird so für diejenigen, die keine Sicherheiten bie-

Zinsverbot

ten können, der Zugang zu Kapital verwehrt, mit der Folge, dass sie davon ausgeschlossen werden, die Wirtschaft mit zu gestal-

Das wohl bekannteste Charakteristikum der islamischen Finanz-

ten und sich von der finanziellen Abhängigkeit, etwa vom Staat,

wirtschaft ist das Verbot von verzinstem Geldverleih. Darlehen

zu befreien.

gegen Zinsen zu gewähren ist daher nicht statthaft. Einzig der Handel ist erlaubt. Dadurch wird das Leistungsprinzip in den Vor-

Sharing und caring

dergrund gestellt und als Legitimation für den Gewinn gesehen. Hingegen wird beim Geldverleih gegen Zins gerade dieses Leis-

Der Grundgedanke der sich stark ausbreitenden Sharing Econo-

tungsprinzip untergraben und der Geldbesitzer dazu verleitet,

my, die Menschen nicht mehr in Konsumenten oder Produzen-

sein Geld für sich arbeiten zu lassen, sprich den Zins vom Geld-

ten einteilt, sondern aus diesen sogenannte Prosumenten macht,

nehmer erwirtschaften zu lassen, ohne dabei nennenswerte Ri-

wird in den Quelltexten, dem Koran wie auch dem Hadith (Pro-

siken einzugehen, verglichen mit dem Händler – also dem Unter-

phetentradition), reflektiert. Allerdings dient diese Idee dort als

nehmer –, der für das unternehmerische Risiko eine Marge erhält,

Grundlage für eine caring society, in der nicht nur der Staat für

die letztlich an das verkaufte Gut gekoppelt ist.

die Bedürftigen sorgt oder bestimmte Unternehmen Angebote für die Bedürfnisse der Massen anbieten, sondern jeder, der die

Mit der Zinsthematik stellt sich die Frage nach Wesen und Funkti-

Qualifikation und die Kompetenz vorweist. Schon zu Beginn der

on des Geldes. Der islamische Gelehrte al-Ghazali stellt in seinem

zweiten Sure im zweiten Vers des Korans werden die Gläubigen

Werk Die Wiederbelebung der Religion in Bezug auf den Tausch

unter anderem als jene beschrieben, die von dem geben, was ih-

unterschiedlicher Waren die Frage, wie man zwei Dinge verglei-

nen zuteil wurde (genauer Wortlaut der deutschen Übersetzung:

chen kann, die keine gemeinsame Eigenschaft haben, und gelangt

»[...] und die von dem, womit wir sie versorgt haben, ausgeben«).

zum Schluss, dass dies nur dann möglich ist, wenn beide Dinge

Hier wird ein unserem Verständnis von Eigentum entgegenste-

mit einem dritten Ding verglichen werden, das keine Eigenschaft

hendes Konzept aufgestellt, das in der Konsequenz bedeutet,

besitzt. Für Ghazali ist dieses eigenschaftslose Ding das Geld. Nur

dass die Güter, die der Mensch besitzt, im Grunde genommen

deshalb ist es in der Lage, als universelle Maßeinheit für alle an-

nicht sein Eigentum sind, sondern dasjenige Gottes.

deren Güter zu fungieren. Wenn aber diese Maßeinheit kommodifiziert wird, das heißt selbst zu einer Ware wird wie alle an-

Dies hat weitreichende Implikationen für das Verständnis und die

deren, führt dies zur Verzerrung des Geldes und schließlich der

weitere Entwicklung der Sharing Economy. In Verbindung mit ei-

Güterpreise. Die Kommodifizierung des Geldes bedeutet in letz-

ner Aussage aus der Prophetentradition, in der erklärt wird, dass

ter Konsequenz die Kommerzialisierung von Schuld, die nun ih-

die Mahlzeit einer Person (im Grunde auch) für zwei reicht, und

rerseits eine Ware wird und verkauft werden kann.

die Mahlzeit für zwei Personen (eben) für vier ausreicht, usw. wird vielleicht deutlicher, was gemeint ist. Nämlich dass die Din-

Schließlich koppelt sich der verzinsliche Geldverleih von der

ge (hier mit dem Fokus auf verbrauchbare Sachen), die Eigentum

Realwirtschaft ab und gründet seine eigene Ökonomie, die Fi-

einer Person sind, zunächst der Befriedigung ihres Bedarfs die-

nanzwirtschaft. Diese kann nun durch die eben genannte Kom-

nen. Was darüber hinaus übrig bleibt, ist zwar weiterhin im Ei-

merzialisierung von Schulden und aufgrund des Systems von

gentum der Person, jedoch stünde es eigentlich anderen Perso-

Zins und Zinseszins unabhängig von der Realwirtschaft exponen-

nen zu, die zwecks ihrer Bedarfsdeckung über nichts bzw. wenig

tiell wachsen. Hieraus resultierende Krisen, die stattfinden kön-

verfügen. Ein gutes Beispiel sind Lebensmittel- und Gastrono-

nen oder gar müssen, haben verheerende Auswirkungen auf die

miegeschäfte, die Lebensmittel, welche bei Ladenschluss übrig

Realwirtschaft und damit auf die finanzielle Situation vieler Men-

bleiben und am Folgetag nicht zum Verkauf angeboten werden

schen, wie die jüngste internationale Finanz- und Wirtschaftskri-

bzw. nicht angeboten werden dürfen, am Abend eben den Weg in

se gelehrt hat.

den Müll finden und nicht in die Mägen Bedürftiger. Bei diesem Umgang mit Lebensmitteln werden auch die Wertmaßstäbe deut-

In der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation ist es nahezu

lich. Gemessen wird die Handlung nicht daran, wie sozial und

unmöglich, an Kredite heranzukommen, ohne entsprechende

nachhaltig, sondern wie wirtschaftlich sie ist. Die Effizienz führt,

Sicherheiten bereitzustellen, welche für den Kreditgeber die Aus-

ja zwingt in einem solchen Fall zu einem sozial unerwünschten

fallrisiken weitestgehend minimieren sollen. Damit gehen zwei

und ethisch kaum vertretbaren Verhalten.

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ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

21

Der Mensch im Fokus, nicht der Profit

des Einzelnen wertgelegt. Dadurch soll gewährleistet werden,

Der islamische Ansatz verfolgt zwar ebenfalls das Prinzip der

dass im Wirtschaftsverkehr die religiösen Hintergründe des Han-

Wirtschaftlichkeit, das darin besteht, mit dem geringsten Auf-

delns präsent sind. Diese Hintergründe werden durch bestimm-

wand den größtmöglichen Nutzen zu erzielen, jedoch findet die-

te täglich mehrmals stattfindende Formen der Ritualgebete und

ses Prinzip seine Schranken dort, wo soziale Nachteile beginnen.

der Meditation wachgehalten. Dadurch wird der Blick auf das Ei-

Wenn soziale Kosten entstehen, sind die ökonomischen Kosten

gene um einen weiterreichenden Blick erweitert, der die Gesell-

nicht prioritär. Das Prinzip des geringen Aufwandes bei größt-

schaft und das Ökosystem umfasst. Die Fähigkeit, sich in andere

möglichem Nutzen hat demnach keine Gültigkeit, wenn es zu

hinein zu versetzen, respektive die Rollen zu tauschen, soll hier-

einer sozio-ökonomischen Benachteiligung Dritter führt. Damit

durch gefördert werden, um im Ergebnis so zu handeln, als wäre

steht aus der islamischen Perspektive in der Wirtschaft zunächst

man beide Parteien zugleich.

der Mensch im Fokus und nicht der Profit. Es ist bekanntermaßen schwierig, von DER Gerechtigkeit zu reDer Markt und die Einstellung seiner Akteure spielen bei dieser

den, geschweige denn sie auch tatsächlich walten zu lassen. Des-

Problematik eine maßgebende Rolle. Als Muhammad nach Me-

halb wird mit Hilfe der täglich stattfindenden und in bestimm-

dina emigrierte, rief er keinen Staat aus und erklärte sich nicht

ten Zeitfenstern im Jahr auftretenden spirituellen Erziehung der

zum Staatsmann, sondern errichtete zwei Institutionen, die für

Einzelne dahingehend erzogen, Gutes zu tun. Dieses abstrak-

die wirtschaftliche Prosperität der damaligen Gemeinde verant-

te Gebot nimmt mit Bezug auf das Wirtschaftsleben eine ent-

wortlich waren: die Moschee und der Markt. Der Moschee – ver-

scheidende Rolle ein. Denn dieses ist im Grunde nichts ande-

standen als Ort des Bezugs zum Transzendenten – kam die Rol-

res als eine zwischenmenschliche Beziehung, die auf der einen

le der Spiritualisierung der Muslime zu. Dies bedeutete auch die

Seite einen Hilferuf darstellt und auf der anderen Seite das kor-

Herstellung einer den islamischen Moralvorstellungen entspre-

respondierende Vermögen, Abhilfe zu schaffen. Für die Abhil-

chenden Einstellung, die den Raum für ein gerechteres, humane-

fe erfolgt in der Regel eine Kompensation in monetärer Form.

res Wirtschaften schaffen soll – wobei die islamischen Moralvorstellungen als universal verstanden werden, weil sich der Islam

Wenn wir unser Wirtschaftsleben als ein Forum der Solidari-

als die der menschlichen Natur in aller Hinsicht Rechnung tragen-

tät und der gegenseitigen Unterstützung (Güter gegen monetä-

de Religion ansieht.

re Kompensation) verstehen, in dem sich jeder Marktteilnehmer

Anstelle der rein materiell-monetären Sicht des Marktes soll das

verhältnisse und verringern sich Ausbeutung und die Ausnutzung

Wesen des Marktteilnehmers (also des Menschen) in gleichem

von asymmetrischen Informationsverhältnissen, ohne auf das in-

wenn nicht sogar in höherem Maße berücksichtigt werden, so

dividuelle Gewinnstreben verzichten zu müssen.

in den anderen wiederfindet, harmonisieren sich die Interessens-

dass der Markt ein Ort des Gewinnstrebens und der Gemeinnützigkeit zugleich wird. Der Moschee kommt darin eine Rolle als Erziehungs- und Bildungszentrum für ein gerechtes Wirtschaften

SOUHEIL THABTI

zu. Dort werden die ethischen Grundvoraussetzungen geschaf-

Theologie, Uni Osnabrück, mit Schwerpunkt islamische

fen und die einzelnen Normen hinsichtlich wirtschaftsbezoge-

Wirtschaftsethik. Er ist Mitglied des internen Ethikrats der

ner Fragen weitergegeben. Der Wirtschaftslehre geht eine spi-

KT Bank AG, Frankfurt, und akademischer Beirat im Rat

rituelle Erziehung voran, die für das Wirtschaften die ethischen

muslimischer Studierender und Akademiker.

ist Doktorand am Institut für Islamische

Grundvoraussetzungen und moralischen Anforderungen vermittelt. Deshalb fußt eine Wirtschaft aus der Perspektive des Is-

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

lams nicht auf ökonomischen Gesetzmäßigkeiten allein, sondern

November 2015

in gleichem Maße auf spirituellen Elementen, die einen integralen Bestandteil in der gelebten wirtschaftlichen Praxis ausma-

Rat muslimischer Studierender & Akademiker

chen. Neben marktpolitischen Interventionen, die Lenkungsauf-

http://www.ramsa-deutschland.org/

gaben ausüben, wird daher auf ein gewisses Maß an Spiritualität

de

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

22

I Die öffentliche Wahrnehmung des islamischen Finanzwesens beruht vielfach auf Idealvorstellungen, die häufig als Beschreibung der Realität missverstanden werden. Dies hat zu einer ganzen Reihe von gravierenden Fehleinschätzungen geführt. So ist ein globaler Fortschritt des islamischen Finanzwesens nicht zu leugnen, der aber nicht selten mit unpassenden Maßstäben beurteilt wird.

ISLAMISCHE fINANZwIRTSCHAfT IDEALE, FEHLEINSCHÄTZUNGEN, FORTSCHRITTE VON

VOLKER NIENHAUS

Der Koran verbietet ribā (Zinsen), gharar (Unklarheiten in Verträ-

vierenden Fehleinschätzungen geführt. So ist ein globaler Fort-

gen) und maysir (Glücksspiel). Außerdem ist den Muslimen unter-

schritt des islamischen Finanzwesens nicht zu leugnen, der aber

sagt, verbotene (haram) Dinge wie etwa Alkohol, Schweinefleisch

nicht selten mit unpassenden Maßstäben beurteilt wird.

oder p*rnographie zu konsumieren, zu produzieren, damit Handel zu treiben oder sie zu finanzieren. Die islamische Finanzwirt-

1. IDEALE

schaft muss all diese Beschränkungen beachten. Ideen und Konzepte, wie dies in modernen Volkswirtschaften erreicht werden

Grob gesagt haben zwei Ideale die Entwicklung des islamischen

kann, haben sich über einen Zeitraum von rund fünfzig Jahren

Finanzwesens bestimmt: das Ideal der Verbesserung der Lebens-

entwickelt. Heute ist das islamische Finanzwesen in einer Reihe

lage ärmerer Bevölkerungsgruppen und das Ideal eines einzigar-

muslimischer Länder weit verbreitet, und in zahlreichen anderen

tigen überlegenen zinsfreien Finanzsystems.

– auch europäischen – Ländern ist es inzwischen als Alternative zum konventionellen Finanzwesen anerkannt. Die öffentliche

GEMEINSCHAfTSORIENTIERUNG

Wahrnehmung des islamischen Finanzwesens beruht vielfach auf Idealvorstellungen, die häufig als Beschreibung der Realität miss-

Die Haddsch (Pilgerreise nach Mekka) ist eine religiöse Pflicht für

verstanden werden. Dies hat zu einer ganzen Reihe von gra-

jeden Muslim. Um für die teure Pilgerreise bezahlen zu können,

Größenordnung und Struktur der islamischen Finanzindustrie. Quellen: ICD Thomson Reuters, Islamic Finance Development Report 2014, State of Global Islamic Economy 2014/2015 Report © Goethe-Institut

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

23

mussten vor allem ärmere Menschen über eine lange Zeit hinweg

würden, würde Kaufkraft für produktive Investitionen verfügbar.

sparen. Viele brachten ihr Geld nicht zur Bank, sondern horteten

Dies würde die nationale Kapitalbildung erheblich steigern, ohne

es unter der Matratze, um sicherzugehen, dass ihre Ersparnisse

das aktuelle Konsumniveau der Sparer real zu verringern (die zu-

nicht durch ribā (Bankzinsen) verunreinigt wurden. Damit waren

dem von sinkenden Transaktionskosten profitieren würden).

ein hohes Sicherheitsrisiko sowie eine fortschreitende Geldentwertung verbunden. Andere liehen sich die notwendigen Mit-

Ein Wechsel der Sparform setzt Finanzinstitutionen voraus, die

tel von Geldverleihern zu wucherischen Zinsen oder verkauften

nicht nur für Sparer im ländlichen Raum erreichbar, sondern

ihr Haus, Vieh oder anderes Eigentum, um die Haddsch zu finan-

auch vertrauenswürdig sind. Eine Bedingung für Vertrauen war,

zieren. Nach ihrer Rückkehr gerieten sie in Not wegen der wu-

dass Sparer sehen können, dass ihr Geld gut angelegt wird. Daher

cherischen Zinslast oder des Verkaufs von Gegenständen, die sie

wurde ein nennenswerter Teil der mobilisierten Spargelder zur

zum Lebensunterhalt benötigten. Ungku Abdul Aziz identifizier-

Finanzierung der lokalen kleinen und mittelgroßen Betriebe ver-

te das Fehlen von zinsfreien Sparmöglichkeiten als wesentlichen

wendet. Eine weitere Bedingung für Vertrauen war, das die Fi-

Grund für solche einzel- und gesamtwirtschaftlich schädlichen

nanzinstitution keine religiösen Gefühle verletzt, weswegen sie

Verhaltensweisen. Er legte der Regierung Malaysias 1959 einen

ohne Zinsen arbeiten musste. Mit diesen Zutaten (und lokal re-

»Plan zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation potenti-

krutiertem Personal) ist es El-Naggar mit seiner zinslosen Spar-

eller Pilger« vor, der zur Grundlage für die Errichtung der Pilg-

kasse gelungen, das Sparverhalten der Landbevölkerung zu ver-

rims Savings Corporation 1963 wurde. Daraus entwickelte sich

ändern und wesentliche Beträge an investierbarer Kaufkraft für

Tabung Haji (the Pilgrims Fund Board) als eine Finanzinstitution,

eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Gemein-

die Ersparnisse künftiger Pilger bündelt und in islamisch zuläs-

de von Mit-Ghamr zu mobilisieren.

sige (halal) Unternehmen investiert. Dies gibt den Sparern nicht nur Sicherheit, sondern auch einen zinsfreien Wertzuwachs für

SySTEMVERäNDERUNG

ihre Sparguthaben. Was als ein bescheidenes Programm zur Unterstützung ärmerer Personen im ländlichen Raum begann, hat

Theoretische Konzepte eines eigenständigen islamischen Wirt-

sich zu einem der größten islamischen Vermögensverwalter Ma-

schaftssystems reichen bis in die 1940er Jahre zurück, als die

laysias entwickelt.

Idee eines eigenen muslimischen Staates nach dem Rückzug der Kolonialmacht Großbritannien aus Indien Gestalt annahm. Ziel

Ein wegweisendes Projekt zur zinslosen Finanzierung von klei-

war die Schaffung eines Wirtschaftssystems, das sich fundamen-

nen und mittelgroßen Betrieben wurde 1963 von Ahmed El-

tal von den damals bekannten Systemen – dem britischen Ko-

Naggar in der ägyptischen Stadt Mit-Ghamr initiiert. Sein Aus-

lonialkapitalismus und dem anti-religiösen sowjetischen Kom-

gangspunkt war die Beobachtung, dass auch die ärmere Land-

munismus – unterscheidet. Grundlagen des Systems sollten

bevölkerung Teile ihres laufenden Einkommens für künftige Ver-

Privateigentum und Unternehmertum sein, aber der Finanzsek-

wendungen (z. B. für die Hochzeit der Kinder, für Krankheitsfäl-

tor sollte gemäß den Anweisungen und Prinzipien von Koran

le oder im Alter) spart. Allerdings tat sie dies in einer Form, die

und Sunna zinslos arbeiten. Als 1947 Pakistan entstand, waren

sowohl für sie selbst als auch für die Volkswirtschaft sehr ineffi-

die Institutionen dieses muslimischen Staates einschließlich der

zient war: Die Sparer bildeten kein Finanzvermögen (etwa durch

Wirtschaft recht säkular. Daher ging die Diskussion um eine an-

Einzahlungen auf ein Sparbuch), sondern sparten in Sachver-

gemessene Wirtschaftsordnung weiter. Insbesondere das Kon-

mögen wie Gold, Schmuck oder langlebigen Konsumgütern. Die-

zept von Muhammad Nejatullah Siddiqi, das Finanzinstitutionen

se Objekte mussten von Händlern gekauft und später bei Bedarf

auf der Grundlage von Gewinn- und Verlustbeteiligungen (Pro-

wieder an Händler verkauft werden, die bei Kauf und Verkauf

fit and Loss Sharing, PLS) vorsah, fand zahlreiche Befürworter.

zweimal Gewinn machten. Die individuellen Transaktionskosten

Seine Idee, zinsbasierte Darlehnsfinanzierungen durch eigenka-

dieser Art des Sparens waren sehr hoch für die Sparer, aber auch

pitalähnliche Partnerschaftsfinanzierungen zu ersetzen, wurde

für die Volkswirtschaft: Geld repräsentiert Kaufkraft für beliebi-

in den 1970er und 1980er Jahren von islamischen Ökonomen zu

ge Güter. Wenn diese Kaufkraft (durch Vermittlung von Finanzin-

formalen Modellen weiterentwickelt. Sie wurden als »zweiseitige

stitutionen) von den Sparern auf Unternehmer übertragen wird,

mud.ārabah-Modelle« bekannt, weil die sowohl für das Finanzierungs- als auch für das Einlagengeschäft von Finanzinstitutionen

können diese sie für produktive Investitionen nutzen und einen den Erwerb von »Spargütern« verwenden, ist sie verbraucht und

vorgeschlagenen PLS-Verträge an mud.ārabah-Partnerschaften der Scharia anknüpfen. In der Literatur wurden diese Finanzins-

steht nicht mehr für produktive Investitionen zur Verfügung. Aus

titutionen als »islamische Banken« bezeichnet, und in der Theo-

Mehrwert schaffen. Wenn die Sparer jedoch die Kaufkraft für

volkswirtschaftlicher Sicht ist das Sparen in Sachgütern kein Spa-

rie sollte ein System PLS-basierter islamischer Banken gerechter,

ren, sondern Konsum. Wenn die Sparer die Form ihrer Ersparnis-

stabiler und effizienter als ein zinsbasiertes System sein. Außer-

se von Sachgütern zu Finanzvermögen (z. B. Sparbücher) ändern

dem könnte es die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben und

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

24

Armut reduzieren. Ein solches System ist allerdings nirgendwo

le Fehleinschätzungen des islamischen Finanzwesens hervorge-

implementiert worden, und die Praxis existierender islamischer

rufen (z. B. als gewaltiger Schwindel, religiöse Propaganda, gro-

Banken weicht erheblich von diesem Ideal ab.

ßer Sprung rückwärts, finanzieller Dschihad oder Finanzierung von Terroristen). Es ist unmöglich, auf alle Fehleinschätzungen

KOMMERZIELLE UNTERNEHMEN

in einem einzigen Aufsatz angemessen einzugehen. Im Folgenden werden nur vier wirtschaftliche Fehleinschätzungen sowohl

In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren begann in ver-

von Muslimen selbst als auch von nicht-muslimischen Beobach-

schiedenen muslimischen Ländern die Praxis des islamischen

tern des islamischen Finanzwesens sowie von Kunden islami-

Bankwesens. Viele der neuen islamischen Banken wurden von

scher Banken diskutiert.

Geschäftsleuten initiiert, die zuvor vor allem im Handel und in der Bauwirtschaft erfolgreich waren. Hervorzuheben sind Pi-

TEILUNG VON RISIKEN?

oniere wie Saeed Bin Ahmed Al Lootah, der 1975 die Dubai Islamic Bank gründete, und Saleh Abdullah Kamel, der ab 1978

Es wird argumentiert, dass eine Stärke des islamischen Finanz-

eine Reihe islamischer Finanzinstitutionen in verschiedenen Län-

wesens in der Beteiligung der Kapitalgeber an den unternehme-

dern errichtete. Deren Perspektiven unterschieden sich aller-

rischen Risiken der Kapitalnehmer durch die PLS-Partnerschaf-

dings deutlich von denen der islamischen Ökonomen. Als Händler

ten liege. Tatsächlich findet jedoch eine Risikobeteiligung in der

und Bauunternehmer hatten sie das volle Spektrum der Finanz-

gegenwärtigen islamischen Bankpraxis kaum statt. Bei Konsu-

dienstleistungen konventioneller Banken genutzt, und genau die-

mentenfinanzierungen fehlt es an einem Gewinn, an dem sich

se Dienstleistungen erwarteten sie auch von ihren neuen Banken,

die Bank beteiligen könnte. Bei Unternehmensfinanzierungen ist

aber unter Beachtung des ribā-Verbots.

den Banken eine Gewinn- und Verlustbeteiligung zu risikoreich und den meisten Unternehmen zu teuer. Beide Seiten bevorzu-

Die Aufgabe, ribā-freie Äquivalente konventioneller Finanzinst-

gen stattdessen auf Kauf- oder Mietverträgen basierende Finan-

rumente zu konstruieren, fiel islamischen Juristen zu. Diese kon-

zierungen. Die Vernachlässigung von PLS-Finanzierungen muss

zentrierten sich auf zinslose Alternativen zu darlehensbasierten

nicht auf Ignoranz oder bösem Willen der Bankpraktiker beru-

Finanzierungsinstrumenten und vernachlässigten PLS-Verträge,

hen. Sie kann darauf zurückzuführen sein, dass das Ideal der Ri-

da solche von konventionellen Banken nicht verwendet wurden.

sikoteilung, das von visionären Theoretikern propagiert wurde,

Die Scharia-Berater ergänzten oder modifizierten traditionelle

keinen besonderen Stellenwert im Selbstverständnis der auf Ge-

Kauf- und Mietverträge, die Finanzierungskomponenten (z. B. in

winn ausgerichteten und in zinsbasierten Systemen operierenden

Form von Ratenzahlungen) erlaubten, und schufen eine breite

islamischen Geschäftsbanken besitzt. Für sie sind zumeist die auf

Palette schariakonformer Finanzierungsinstrumente mit erfolgs-

Schuldtiteln basierenden Finanzierungsformen ohne Risikobetei-

unabhängigen Zahlungsverpflichtungen (Schuldtiteln) und festen

ligung kommerziell attraktiver. Der schariakonforme Nach- oder

Finanzierungskosten für die Bankkunden bzw. festen Erträgen

Umbau existierender konventioneller Produkte und Techniken ist

für die Bank. Die Finanzierungskosten bzw. -erträge sehen öko-

eine rationale Reaktion auf Marktgegebenheiten: Zu den Grün-

nomisch zwar wie Zinsen aus, sind aber – worauf es ankommt –

den, die PLS-Finanzierungen für Banken unattraktiv machen, ge-

rechtlich nicht als Zins, sondern als Gewinn aus Handels- oder

hören auch das Fehlen verlässlicher Buchführungssysteme in

Mietverträgen zu klassifizieren. Die typischen Finanzierungsver-

vielen Entwicklungsländern sowie die Laufzeitinkongruenz von

träge islamischer Banken sind bekannt als murābah.ah to the purchase order, parallel und hybrid salam, parallel istis. nā‘, ijārah

Bindungen von Finanzmitteln in PLS-Projekten. Praktiker haben

muntahia bittamleek, sowie tawarruq oder commodity murābah. ah. Die Dominanz der auf Schuldtiteln beruhenden Instrumente

schen Finanzwesen viele attraktive Eigenschaften (Gerechtig-

in der Praxis islamischer Banken wurde von Verfechtern abs-

keit, Stabilität, Entwicklungsförderung usw.) zuschreibt, auf die

trakter Modelle einer PLS-Wirtschaft lange Zeit ignoriert. Zwi-

man gern bei Selbstdarstellungen z. B. in der Werbung, bei Me-

kurzfristig fälligen Kundengeldern mit mittel- bis längerfristigen allerdings erkannt, dass die Theorie dem (PLS-basierten) islami-

schen den auf Eigenkapital bauenden PLS-Modellen und der mit

dienauftritten, in Reden oder Hochglanzbroschüren verweist. So

Schuldtiteln arbeitenden Praxis bestand und besteht noch immer

werden ideale Eigenschaften eines Modells mit Realitäten der is-

eine erhebliche Diskrepanz.

lamischen Bankpraxis in einer Weise vermengt, die für weniger gut informierte Beobachter schwer verständlich ist und weitere

2. fEHLEINSCHäTZUNGEN

Fehleinschätzungen hervorgerufen hat.

Es ist nicht zu bestreiten, dass die Islamophobie im Westen zu-

BINDUNG VON fINANZIERUNGEN AN SACHGüTER?

nimmt und der Begriff »islamisches« Finanzwesen für viele Menschen negativ besetzt ist. Ignoranz, Vorurteile, anti-islamische

Befürworter des islamischen Finanzwesens erklären, dass durch

Stimmungen und feindselige politische Agitation haben radika-

Scharia-Verträge Finanzierungen automatisch an Sachgüter (oder

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

25

Nutzungsrechte und Dienstleistungen) gebunden werden. Dies

Arrangements dieser Art wurden heftig kritisiert, weil sie dem

verhindere Spekulationen und führe zu einer höheren Stabilität

verbotenen ribā sehr nahe kommen, und sie waren ursprünglich

des islamischen Finanzsystems im Vergleich zum konventionel-

nur als Ausnahme (insbesondere für Transaktionen zwischen is-

len. Leider stehen diese Argumente auf schwankendem Boden.

lamischen Banken zum Ausgleich von Liquiditätssalden) vorgesehen. Dennoch verwenden islamische Banken tawarruq und

Richtig ist, dass sich islamische Finanzinstitutionen nicht am spekulativen Handel mit Finanzpapieren jener Art beteiligen dür-

ähnliche Strukturen (wie etwa commodity murābah.ah oder bay‘ bithaman ajil [in Malaysia]) auch im normalen Bankgeschäft. An

fen, die im konventionellen System unbeherrschbare Risiken und

der tawarruq-Praxis kann man sehr gut die Debatte um »Form

Schwankungen ausgelöst hat. Allerdings sind spekulative Bla-

vor Inhalt« veranschaulichen. Im formalen Sinne ist tawarruq frei

sen keineswegs auf den Finanzsektor beschränkt. Rohstoff- oder

von ribā, denn es basiert ausschließlich auf Kaufverträgen für

Immobilienspekulationen und -blasen treten ziemlich regelmä-

eine Sache. Weder die Bank noch der Makler verlangen im recht-

ßig auf, und islamische Banken waren wohl auch in diesen Märk-

lichen Sinne Zinsen, sondern erzielen Gewinne aus Handelsge-

ten aktiv.

schäften. Inhalt und Zweck des gesamten Arrangements ist aber die Bereitstellung von Liquidität heute zu einem festen, in der

Ein weiterer Vorbehalt ergibt sich daraus, dass jeder schariakon-

Zukunft zu zahlenden Preis, was in der ökonomischen Substanz

forme Vertrag für sich genommen an ein Sachgut gebunden sein

einem verzinslichen Darlehen entspricht. Die Form der Handels-

mag, aber durch die Kombination von zwei (oder mehreren) Ver-

verträge war notwendig, um die Substanz eines Zinsdarlehens

trägen das Sachgut (wie unten beschrieben) herausgekürzt wer-

schariakonform nachzubilden. Wenn im normalen Bankgeschäft

den kann: In solchen Arrangements hat keine der beteiligten Par-

das gesamte Arrangement von der Bank gebündelt angeboten

teien ein ‚reales‘ Interesse an dem zugrundeliegenden Sachgut.

wird, ist es als »organisierter tawarruq« nach Ansicht hochran-

Am Ende einer Kette verwobener Transaktion könnte es wieder

giger islamischer Rechtsgelehrter verboten. Sofern aber tatsäch-

(oder faktisch immer noch) im Besitz des ursprünglichen Eigentü-

lich – wie im Beispiel – getrennte Verträge vorliegen und eine Ei-

mers sein. Das bekannteste Beispiel für ein solches Arrangement

geninitiative des Bankkunden (insbes. der Kontakt zu Makler C)

ist tawarruq, das am besten mit einem einfachen Zahlenbeispiel

erforderlich ist, ist tawarruq zwar zulässig, wird aber missbilligt

illustriert werden kann:

(makrūh).

Partei A braucht heute Geld und ist bereit, dafür in der Zukunft

üBERLEGENE INHäRENTE STABILITäT?

auf einen höheren Betrag zu verzichten. A erwirbt von Bank B ein Sachgut zur sofortigen Lieferung mit einem heutigen Markt-

Praktiken wie ein umfangreiches Engagement in Immobilien-

wert von 100 €, für das A erst in einem Jahr einen Preis von 110

märkten, die zur Bildung von Spekulationsblasen neigen, und die

€ zahlen muss (Vertrag AB). A kann das Sachgut gegen Barzah-

Bereitstellung von Liquidität durch Arrangements, die funktio-

lung bei sofortiger Lieferung mit einem gewissen Abschlag vom

nale Äquivalente zinsbasierter Darlehen sind, eignen sich nicht

Marktwert an einen Makler C verkaufen, z. B. zu einem Preis von

besonders, die Behauptung zu stützen, dass das islamische Fi-

95 € (Vertrag AC). C verkauft dann gegen Barzahlung und sofor-

nanzsystem inhärent, d. h. aufgrund seiner grundlegenden Kon-

tige Lieferung das Gut zum Marktpreis von 100 € an Bank B (Ver-

struktionsmerkmale, stabiler ist als konventionelle Systeme. Be-

trag CB). Wenn es sich um ein Gut handelt, das an einer elektro-

fürworter dieser These verweisen allerdings auf Erfahrungen

nischen Börse gehandelt wird (z. B. Platin an der London Metal

aus der globalen Finanzkrise 2007–2009, in der einige der größ-

Exchange), kann die gesamte Transaktion innerhalb von Sekun-

ten und symbolträchtigsten Akteure des westlichen Finanzkapi-

den mit folgendem Ergebnis abgewickelt sein:

talismus zusammengebrochen sind, während islamische Banken zunächst nicht von der Krise betroffen waren (sondern erst spä-

Partei A hat 95 € in bar, keine Sachgüter und eine künftige

ter von der dann einsetzenden weltweiten Rezession). Dies ist in

Zahlungsverpflichtung aus einer Kaufpreisstundung von 110 €

der Tat bemerkenswert, aber keineswegs ein Beweis für die Sta-

gegenüber B; A entstehen Kosten von insgesamt 15 € (5 € so-

bilitätsbehauptung: In vielen Schwellenländern waren nicht nur

fort und 10 € in der Zukunft).

islamische sondern auch konventionelle Banken kaum unmittel-

Bank B hat eine Forderung von 110 € gegen A und faktisch

bar von der Finanzkrise betroffen – einfach deshalb, weil die Ein-

das gleiche Sachgut wie zu Beginn der Transaktionen (das an

bindung aller Banken dieser Länder in die internationale Finanz-

A für 110 € verkaufte und von C für 100 € zurückgekaufte

wirtschaft noch nicht sehr weit fortgeschritten ist. Aber selbst

Platin); der Handelsgewinn aus den verwobenen Kaufverträ-

in westlichen Ländern wie Deutschland mit etwa 1.800 rechtlich

gen wird 10 € betragen.

selbständigen Banken hat die weitaus größte Zahl von Banken

Makler C hat kein Sachgut und aus dem unmittelbar aufein-

die erste Runde der Finanzkrise relativ unbeschadet überstan-

ander folgenden Kauf von A und Verkauf an B einen Gewinn

den. In ihrer Größenordnung, Zurückhaltung bei spekulativen in-

von 5 €.

ternationalen Finanzmarkttransaktionen, der Fokussierung auf

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

26

die lokale oder regionale Wirtschaft und ihrem Engagement im

reiche westliche Institutionen des ethischen Finanzwesens zu-

standardisierten Privatkundengeschäft waren sich viele islami-

sätzlich Positivlisten, um Investitionen in bevorzugte Bereiche

sche Banken und konventionelle Institute sehr ähnlich. Daher

wie etwa Biodiversität, Energieeffizienz oder Gemeindeentwick-

kann man vermuten, dass die relative Krisenfestigkeit beider

lung zu lenken. Darüber hinaus werden ethische Kriterien bei der

Gruppen weniger auf die rechtlichen Scharia-Spezifika bei Ver-

Evaluation und Selektion von Projekten und zur Identifizierung

trägen als vielmehr auf das ähnliche ökonomische Geschäftsmo-

von Firmen mit guter Unternehmensführung (corporate gover-

dell zurückzuführen ist.

nance) und überzeugenden Aktivitäten zur Wahrnehmung sozialer und ökologischer Verantwortung (corporate social responsi-

VORREITER DER ETHISCHEN fINANZwIRTSCHAfT?

bility) angewandt. Die Endauswahl von Investitionsprojekten (mit einer Mindestrendite) kann dann z. B. nach Nachhaltigkeitskrite-

Es gab die irrige Meinung, dass islamische Finanzinstitutionen

rien, ökologischen und sozialen Wirkungen oder Entwicklungsef-

nur für Muslime seien. Verfechter der islamischen Finanzwirt-

fekten erfolgen. Die islamische Finanzwirtschaft hat diese Diffe-

schaft haben dies korrigiert und herausgestellt, dass das islami-

renziertheit noch nicht erreicht.

sche Finanzwesen nicht nur jedermann offensteht, sondern dass es sogar besonders attraktiv für Nichtmuslime wäre, die nach

Der Abstand des islamischen Finanzwesens zu den hohen westli-

ethischen Finanzinstitutionen und sozial und ökologisch verant-

chen Standards ist noch sehr deutlich. Bis auf Weiteres ist es da-

wortbaren Geldanlagen suchen. Einige gingen sogar so weit zu

her wohl eher die islamische Finanzwirtschaft, die vom Westen

behaupten, dass die islamische Finanzwirtschaft per se ethische

Techniken und Verfahren der ethischen Finanzwirtschaft lernen

Finanzwirtschaft sei, weil sie auf dem Koran und der Sunna, also

kann als umgekehrt. Es gibt sicherlich im Bereich der ethisch mo-

einem religiösen Fundament aufbaue. Es wurde insbesondere

tivierten Anleger ein nicht-muslimisches Kundenpotential, aber

darauf verwiesen, dass der Islam unethische Dinge und Praktiken

zu seiner Erschließung bedarf es noch einiger Anstrengungen.

verbietet. Die Liste der verbotenen Dinge (haram) enthält vor allem Darlehnszinsen, Schweinefleisch, Alkohol (bzw. berauschen-

3. fORTSCHRITTE

de Substanzen), p*rnographie, Glücksspiel und manchmal auch Tabakerzeugnisse und Massenvernichtungswaffen. Kunden isla-

Die nachfolgende Zusammenfassung wichtiger Daten zur globa-

mischer Banken sind vor solchen verbotenen Dingen geschützt.

len Größenordnung und Struktur des islamischen Finanzwesens

Ihr Geld wird auch nicht in spekulativen Finanztransaktionen ein-

zeigt das eindrucksvolle Wachstum und die Differenzierung der

gesetzt, und insofern genügen ihre Geldanlagen ethischen Anfor-

islamischen Finanzwirtschaft. Dies ist aber nur eine Momentauf-

derungen. Es bestand die Erwartung, dass diese Qualität des is-

nahme eines Sektors mit einer starken Dynamik. Die abschlie-

lamischen Finanzwesens auch solche nicht-muslimischen Kunden

ßend skizzierte Initiative der Regierung und Zentralbank eines

anziehen könnte, die durch die Finanzkrise erkannten, wie Kun-

muslimischen Landes kann als Beispiel dieser Dynamik gesehen

dengelder von westlichen Banken als ‚Wetteinsätze‘ im globalen

werden, durch die sich die Praxis der islamischen Finanzwirt-

Finanzkasino missbraucht wurden.

schaft den Idealen der an Entwicklung interessierten Pioniere und islamischen Ökonomen annähern kann.

Diese Sichtweise ist nicht abwegig, vermittelt aber eine ziemlich einseitige Botschaft: Sie fordert Nichtmuslime dazu auf, auf ihrer

GRöSSENORDNUNG UND STRUKTUR

Suche nach ethischen Banken und verantwortbaren Investments das islamische Finanzwesen zu entdecken. Dabei wird aber über-

Die islamische Finanzwirtschaft hat sich während der letzten vier

sehen, dass im Westen bereits eine hochentwickelte ethische Fi-

Dekaden dank anhaltend zweistelliger Wachstumsraten zu ei-

nanzwirtschaft als eigenständige Branche existiert, die sich auf

ner diversifizierten Branche mit einem Anlagevermögen von ca.

nachhaltige und verantwortliche Geldanlagen spezialisiert hat.

1.700 Milliarden US$ entwickelt. Im Vergleich zur globalen kon-

Dieser Sektor ist mindestens viermal so groß wie die islami-

ventionellen Finanzindustrie mit einem Volumen von weit über

sche Finanzwirtschaft, und er wächst mit Raten, die nicht min-

100.000 Milliarden US$ ist der islamische Sektor allerdings im-

der eindrucksvoll sind als die des islamischen Bankwesens. Die

mer noch klein und erreicht nur ca. 1,5 % des weltweiten An-

angewandten Methoden sind weitaus ausgefeilter und transpa-

lagevermögens der Banken. Ein solcher Vergleich unterschätzt

renter als die gegenwärtigen Praktiken im islamischen Finanzwe-

jedoch die Bedeutung der islamischen Finanzwirtschaft in ein-

sen. Dort dominieren Negativlisten mit verbotenen (haram) Gü-

zelnen islamischen Ländern. Von Iran und Sudan abgesehen, die

tern und Transaktionen sowie finanzielle Kennzahlen, mit denen

ihr gesamtes Finanzwesen islamisiert haben, haben islamische

Projekte oder Wirtschaftsgüter ausgesondert werden, deren Ge-

Banken einen Marktanteil von 20 % und mehr in Kuwait, Brunei,

winne zu sehr mit Zinselementen belastet sind. Die Auswahl aus

Jemen, Katar und Malaysia erreicht, und sie nähern sich (ziem-

den verbleibenden schariakonformen Alternativen erfolgt dann

lich schnell) dieser Marke in den Vereinigten Arabischen Emira-

nach kommerziellen Kriterien. Demgegenüber verwenden zahl-

ten und in Bangladesch.

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

ORIENTIERUNG füR DIE MäRKTE

27

verlusten zurückzuzahlen. Die Banken müssen künftig unmissverständlich und mit auffälligen Warnhinweisen auf dieses Ver-

Das islamische Bankwesen in Malaysia startete 1983. Seitdem

lustrisiko hinweisen (was sie bislang möglichst vermieden hat-

hat das Land das umfassendste und vollständigste islamische Fi-

ten). Sie müssen darüber hinaus den Kunden ihre Investitions-

nanzsystem (parallel zu seinem konventionellen Finanzsektor)

ziele und Strategien, Risikofaktoren, Vergangenheitsdaten und

aufgebaut. Malaysia kann auf eine eindrucksvolle Liste von In-

realistische Projektionen zukünftiger Ergebnisse sowie die Ein-

novationen und wegweisenden Initiativen im islamischen Finanz-

zelheiten zur Berechnung und Verteilung von Investitionsgewin-

wesen verweisen. Dazu zählen u. a.

nen darlegen. BNM verbietet ausdrücklich das Glätten von Gewinnauszahlungen durch die islamischen Banken, wodurch in der

die Gründung und das Wachstum von Tabung Haji,

Vergangenheit für die Bankkunden kaum ein Unterschied zwi-

die Einrichtung nationaler Scharia-Beratungsgremien (Sha-

schen islamischen Investitionskonten und konventionellen Spar-

rī‘ah Advisory Councils) als höchste Autoritäten in Fragen des

und Terminkonten zu erkennen war. Islamische Banken müssen

islamischen Finanzwesens bei der Zentralbank und der Wert-

jetzt bei jedem Kunden prüfen, ob das angebotene Investitions-

papieraufsicht,

konto für dessen Zwecke und seine Fähigkeit, Verluste zu ver-

die Genehmigung von »islamischen Fenstern« in konventio-

kraften, geeignet ist.

nellen Banken 1993, und nach ungefähr 20 Jahren der Druck

• •

auf die Banken, die Fenster zu Tochterunternehmen – d. h. zu

Auf diese Weise werden malaysische Investitionskonten tatsäch-

eigenständigen islamischen Banken – fortzuentwickeln,

lich sowohl nach ihrer Form als auch in der Substanz zu risiko-

die Schaffung eines schariakonformen Interbanken-Marktes

beteiligten Produkten. Dies ist aber nur der erste Schritt einer

und eines geldpolitischen Instrumentariums,

Annäherung der Bankpraxis an das PLS-Ideal. Er muss ergänzt

die Errichtung der ersten speziellen Universität für das isla-

werden durch mehr PLS-Finanzierungen. Dazu hat BNM im Früh-

mische Finanzwesen (das International Centre for Education

jahr 2015 die Errichtung einer Investitionskonten-Plattform (In-

in Islamic Finance, INCEIF),

vestment Account Platform, IAP) mit öffentlicher Unterstützung

die starke Unterstützung bei der Gründung des Islamic Finan-

angekündigt. Die Plattform soll kleinen und mittelgroßen Un-

cial Services Board (IFSB) als globalem Standardsetter für die

ternehmen (SMEs) den Zugang zu den Mitteln eines Pools er-

Regulierung der islamischen Finanzwirtschaft,

öffnen, in den islamische Banken Gelder von Investitionskonten

die systematische und erfolgreiche entwicklung des sukūk-

einbringen und für PLS-Finanzierungen nutzen können. Eine sol-

Marktes.

che Plattform kann mehr Finanzierungen abwickeln als einzelne Banken und daher spezialisiertes Personal zur Projektevalu-

Trotz all dieser Initiativen ist die Praxis des islamischen Bankwe-

ierung beschäftigen, das für eine einzelne Bank zu teuer wäre.

sens in Malaysia weit entfernt von den PLS-Idealen der islami-

Außerdem bieten sich bessere Möglichkeiten zur Streuung und

schen Ökonomen, woran auch öffentlich Kritik geübt wurde. Of-

zum Management der Risiken von PLS-Finanzierungen, so dass

fenbar haben die Ideale bei der Regierung und der Zentralbank

die aus Informationsasymmetrien und Fehlanreizen resultieren-

(Bank Negara Malaysia, BNM) ein offenes Ohr gefunden. Das

den und bisher unüberwindlich erscheinenden Probleme bewäl-

Gesetz über islamische Finanzdienstleistungen (Islamic Financi-

tigt werden könnten. Wenn diese neue Initiative Erfolg hat, wird

al Services Act) von 2013 trifft eine klare Unterscheidung zwi-

die islamische Finanzpraxis den Idealen der Visionäre und der is-

schen islamischen Einlagen und islamischen Investitionskonten,

lamischen Ökonomen ein gutes Stück näher kommen. Die islami-

und BNM stellt klar:

sche Finanzwirtschaft würde eigenständiger und überzeugender – zumindest in Malaysia.

Islamische Einlagen sind Gelder, die die Bank auf der Grundlage von qard. - oder wad. ī‘ah-Verträgen entgegennimmt. Sie ist verpflichtet, die Gelder in voller Höhe zurückzuzahlen, so dass islamische Einlagen risikolos sind.

VOLKER NIENHAUS

war Professor für Volkswirtschaftslehre

in Trier und Bochum und Präsident der Universität Marburg.

Islamische Investitionskosten können auf mud. ārabah-, mushā-

Er ist derzeit Honorarprofessor der Universität Bochum,

rakah- oder wakālah-Verträgen beruhen, die alle eine PLS-

Gastprofessor der University of Reading und des International

Dimension aufweisen. Gelder, die auf Investitionskonten ein-

Centre for Education in Islamic Finance (INCEIF) in Kuala

gezahlt werden, sind daher einem Marktrisiko ausgesetzt.

Lumpur und Berater des Islamic Financial Services Board (IFSB).

Die islamischen Banken investieren die Gelder der Investitions-

islamischen Wirtschafts- und Finanzfragen veröffentlicht.

Seit den 1980er Jahren hat er zahlreiche Beiträge zu konteninhaber, und Investitionsverluste müssen von den Kontoinhabern getragen werden. Die Banken sind nur verpflichtet, den

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

Nettowert der empfangenen Gelder nach Abzug von Investitions-

November 2015

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

28

I Die größere wirtschaftliche Entwicklung des Westens im Vergleich zur islamischen Welt wird häufig mit religiösen Gründen erklärt. Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte des Nahen Ostens räumt mit diesen Vorstellungen auf und rückt die Frage in den Vordergrund, welches wirtschaftliche System den realen Interessen der Menschen am besten gerecht wird, wie der syrische Wirtschaftshistoriker Ali Al-Saleh erklärt.

ISLAM UND öKONOMISCHE ENTwICKLUNG Wirtschaftsgeschichte aM BeisPiel syrien VON

ali al-saleh

Einige Wissenschaftler im Westen machen aus ihrer islamkriti-

im späten europäischen Mittelalter entsprungen sei. Zur sel-

schen Haltung keinen Hehl und sehen im Islam selbst die Ursa-

ben Zeit ist in der mittelalterlichen arabischen Welt die Entste-

che dafür, dass sich seine Anhänger in einem Sumpf von Rück-

hung vergleichbarer, ja in ihrer Art

ständigkeit und stagnation wiederfinden. Der habe ihnen

sogar

nämlich jedwede wirtschaftliche Initiative ausgetrieben, im Ge-

te zu beobachten, was beweist, dass

Bau der Faisal

gensatz zu den westlichen Gesellschaften, wo Kapitalismus und

der Islam damals kein Hindernis für

Islamic Bank in Kairo.

demokratischer Liberalismus sich Bahn brechen konnten. Nur

eine solche Entwicklung darstell-

Foto: Stefan Weidner

wenige unter ihnen stellen sich der Problematik von Fortschritt vs. Rückständigkeit in der islamischen Welt unvoreingenommen und unter Anwendung von Kriterien, die den Zusammenhang zwischen den Glaubensprinzipien einerseits und der vorherrschenden gesellschaftlichen Realität andererseits wissenschaftlich zu fassen vermögen. Die Frage, die sich hier aufdrängt, lautet: Warum konnte der Kapitalismus in Europa und anderen Ländern wie etwa Japan in jüngerer Zeit eine Blüte erleben und zur Inkarnation von Modernität und Fortschritt werden, nicht jedoch in den arabischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, darunter Syrien? Im Folgenden will ich einige Beobachtungen zu diesem Thema anstellen, beginnend mit der Epoche der Kreuzzüge in der Levante, die zeitlich mit den ersten Vorboten des Merkantilismus im Westen zusammenfallen, welcher die Grundlage für den späteren Kapitalismus bildet. Dann werde ich mich der Geschichte jener Region unter den Osmanen zuwenden, um schließlich beim modernen syrischen Staat anzugelangen, der im Zeichen der französischen Mandatsherrschaft entstanden ist und dann seine Unabhängigkeit errungen hat. DIE GLEICHZEITIGKEIT DES KAPITALISMUS Einige westliche Soziologen wie Max Weber, Werner Sombart und auch Karl Marx haben auf die Tatsache hingewiesen, dass der moderne Kapitalismus – Synonym für wirtschaftliche Blüte und Fortschritt – aus dem Schoß des Handelskapitalismus und des Geldwechselwesens

wegweisender

Finanzmärk-

© Goethe-Institut

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

29

te. Im Falle der Levante kann während der Epoche der Kreuz-

len Ressourcen des Staates entgegenzuwirken und so dessen in

züge die Existenz von bereits deutlich ausgeprägten kapitalisti-

die Höhe schnellende Militärausgaben schultern zu können.

schen Wirtschaftszweigen, darunter Handel und Finanzwesen, konstatiert werden – also genau zeitgleich mit der vorkapita-

Hintergrund war die Tatsache, dass wirtschaftlich lebenswich-

listischen Phase des Merkantilismus im Westen. Andererseits

tige Häfen seinem Herrschaftsbereich entrissen worden waren,

herrscht nach wie vor die Überzeugung vor, die Phase des Feu-

nämlich im Zuge der Besatzung durch die Kreuzfahrer und der

dalismus markiere innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung

mongolischen Invasion, sowie der daraus folgenden Zerstörung,

einen entscheidenden Meilenstein im Hinblick auf einen baldigen

Vertreibung und Plünderung sowohl der materiellen als auch der

Übergang zur kapitalistischen Phase, ja sei sogar deren Voraus-

finanziellen ressourcen. Zu den eigenheiten jener epoche gehört

setzung.

es auch, dass die Großhändler und Grundbesitzer in den levantinischen Städten, die später sogenannte Bourgeoisie, nicht in

Während aber im Westen der Feudalismus zu Zeiten einer

die Regierungsgeschäfte involviert war, während dies bei deren

schwachen Zentralgewalt und einer Vorherrschaft der ländlichen

Standesgenossen in den italienischen Städten jener Zeit, ja so-

Ökonomie als beinahe einziger Vermögensquelle die Bühne be-

gar in den levantinischen Städten unter Herrschaft der Kreuz-

trat, vollzog sich dieser Wandel in der islamischen Welt unter ei-

fahrer, durchaus der Fall war: Jene standen den Feudalfürsten

ner starken Zentralgewalt, der in Bagdad residierenden Abbasi-

bei der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten der Kreuz-

den-Dynastie, sowie vor dem Hintergrund einer mannigfaltigen

fahrerstaaten zur Seite, sowohl im politischen als auch im wirt-

ökonomischen Aktivität in Form von Landwirtschaft, Handel

schaftlichen Bereich.

und einem florierenden produzierenden gewerbe. später bildete sich auf dem Gebiet der Levante unter dem Dach des starken

AUfKOMMEN DER wIRTSCHAfTLICHEN MODERNE

Zentralstaats der Mamluken ein System von regionalen Militärdynastien heraus, jedoch bei zunehmendem Niedergang seiner

Ergänzend zu dem oben Gesagten lässt sich – ohne dabei wei-

vielfältigen wirtschaftlichen Aktivitäten. Die Gründe dafür stan-

ter ins Detail gehen zu wollen – feststellen, dass der einfluss von

den in keinerlei Zusammenhang mit irgendwelchen Glaubens-

religiösen Überzeugungen auf das wirtschaftliche Leben in der

dogmen.

Levante während der Kreuzzüge sich in Grenzen hielt. In dem Moment, wo es zu Widersprüchen zwischen Theorie und Praxis

KREUZZüGE UND MONGOLENSTURM

kam, wurde den Erfordernissen der Gesellschaft Vorrang vor allem anderen eingeräumt bei der Bewältigung der gerade anste-

Allgemein gesprochen lief diese Entwicklung innerhalb des isla-

henden Herausforderungen. Auch ähnelte die damalige Gesell-

mischen Herrschaftsgebiets auf die Übernahme eines feudalis-

schaftsstruktur der islamischen Welt in hohem Maße derjenigen

tischen Systems hinaus, und zwar aus anderen Gründen als den-

in Europa, wie auch derjenigen in China, Japan und Indien, be-

jenigen, die in Europa für diese Transformation verantwortlich

vor die Schockwellen des europäischen Kolonialismus hereinbra-

waren. in der levante reichten die finanziellen ressourcen der

chen. Allerdings unterschied sich das, was danach im Zuge der

regionalen staatlichen Herrschaft nicht mehr aus, um die stei-

modernen Krisen an ökonomischen Entwicklungen in der ara-

genden finanziellen lasten zu tragen, die sich aus der invasi-

bischen Welt stattfand, sehr wohl von dem, was in Europa vor

on der Kreuzfahrer und dem zerstörerischen Mongolensturm

sich ging. Die Gründe dafür waren ebenfalls in erster Linie welt-

ergaben, zumal der materielle Spielraum der Zentralregierung

licher Art. Im Folgenden werden wir einige davon behandeln.

in Bagdad geschrumpft war. Wir haben es also mit einem ganz deutlichen Kontrast zu tun: Auf der einen Seite die Feudalfürs-

Das Osmanische Reich fungierte bis Anfang des 19. Jahrhunderts

ten in Europa, die von den ländlichen Gebieten aus, wo sie ihre

als Zufluchtsstätte und letzte Bastion für die Mehrzahl derjeni-

Basis hatten, auf die städte übergriffen, um sich zusätzlicher fi-

gen Muslime, die außerhalb der europäischen Kolonialherrschaft

nanzieller Ressourcen auf Kosten der Bürger in den europäi-

verblieben waren. Gleichzeitig nahm es eine Vorreiterrolle ein

schen Städten zu bemächtigen, nachdem sich die ländliche Öko-

beim Ergreifen erster Modernisierungsschritte, dabei bisweilen

nomie als unfähig erwiesen hatte, den steigenden finanziellen

gegen die Bestimmungen des islamischen Rechts verstoßend.

Bedarf zu befriedigen. Nach dem Friedensschluss von Karlowitz mit dem Habsburger Auf der anderen Seite die staatliche Herrschaft in der Levan-

Reich im Jahre 1699 war das Osmanische Reich in der Zeit zwi-

te, die ausgehend von den regionalen Metropolen, den Zentren

schen 1700 und 1914 darum bemüht, die Zentralherrschaft über

der politischen Macht, ihren einfluss auf die ländlichen gebiete

das Reich gegenüber dem zunehmenden politischen und militäri-

und kleineren Städte ausweitete, um dem Versagen des bisheri-

schen Druck vonseiten der Europäer zu konsolidieren, analog zu

gen steuersystems bei der sicherung der notwendigen finanziel-

der Situation, wie sie in der Levante zur Zeit der Kreuzzüge be-

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standen hatte. Diese Strategie ging auf der Ebene der Ökonomie

sitzer und die des Staates insgesamt, aufgebläht hauptsächlich

des Staates einher mit der allmählichen Entstehung eines »Kapi-

durch die Aufnahme von Schulden auf den internationalen Fi-

talismus der Peripherie«, gegenüber der üblicherweise als mit-

nanzmärkten.

teleuropäischer Kapitalismus bezeichneten Spielart. DIE DAMALIGE LAGE IN SyRIEN Das Motiv dahinter war auch hier die Notwendigkeit seitens des osmanischen Staates, zusätzliche Einnahmequellen zu er-

In den syrischen Provinzen des Osmanischen Reichs stellt sich

schließen. So ging er vom 17. Jahrhundert an dazu über, die

die Aneignung des landwirtschaftlichen Überschusses durch den

Tımare genannten landwirtschaftlichen Lehen, die auf Lebenszeit

Staat noch komplexer dar. Denn diese Provinzen hatten von sich

übertragen wurden und vom Prinzip her mit denen der Mam-

aus entscheidende Weichenstellungen getroffen, wie die Ein-

lukenzeit vergleichbar waren, in erbliche Lehen umzuwandeln.

führung von Zöllen auf den Warenverkehr und die Verankerung

Der Staat gewährte den Vasallen der fürstlichen Ländereien das

von Handelsregulierungen, und zwar ebenfalls bereits vor Be-

Recht, frei über sie zu verfügen, sie also etwa zu verkaufen oder

ginn des Kolonialismus. Die syrischen Provinzen mussten immer

weiterzuvererben, dabei das genannte Ziel verfolgend. Mit an-

höhere Beträge in die Kassen der Zentralgewalt in Istanbul ein-

deren Worten: Diese Privatisierungsbewegung und der Zuwachs

zahlen, um für die Kosten der Kriege auf der Krim und auf dem

des Privateigentums in den Provinzen des Osmanischen Reichs

Balkan aufzukommen, sowie für die Kosten des Zustroms von

waren erste Vorboten einer kapitalistischen Marktwirtschaft,

Millionen von Flüchtlingen, die ihr Zuhause auf dem Balkan und

noch vor der Epoche der direkten europäischen Kolonialherr-

im Kaukasus zurückließen und ins Zentrum des Reichs nach Ana-

schaft über die Länder der Region und der damals verbreiteten

tolien umsiedelten. Zehntausende weitere Flüchtlinge wanderten

Propaganda, jene Kolonialherrschaft sei es, die Aufschwung und

in die syrischen Provinzen, unter ihnen Tscherkessen, Albaner

Modernisierung mit sich gebracht habe.

und Bosniaken. Zusätzlicher Druck entstand durch das Einbehalten von Gewinnen durch die in den syrischen Provinzen aktiven

EUROPäISCHE UNTERwANDERUNG UND PRIVATISIERUNG

ausländischen Unternehmen und den zunehmenden Geldbedarf der Großgrundbesitzer und Großhändler in den Städten. Da-

Nichtsdestotrotz war Mitte des 19. Jahrhunderts ein entschei-

durch blieb am Ende ein zu geringer Anteil des landwirtschaftli-

dender Wendepunkt auf der Ebene von Herrschaft und Zivilge-

chen Überschusses übrig, als dass damit wirtschaftlich sinnvolle

sellschaft im Osmanischen Reich zu verzeichnen. Die Suche des

Investitionen in jenen Provinzen hätten getätigt werden können,

Staates nach zusätzlichen Geldquellen und das Anwachsen seiner

insbesondere für diejenigen Bürger, die unter elenden Lebensbe-

Auslandsschulden zugunsten der europäischen Gläubiger zwan-

dingungen litten.

gen ihn dazu, neue Steuersysteme einzuführen. Ferner übten diese europäischen Kapitalisten im Rahmen einer Politik der In-

Aus dem eben Gesagten wird deutlich, dass der Prozess der ka-

filtrierung des »kranken Mannes am Bosporus«, wie sie das os-

pitalistischen Modernisierung im Osmanischen Reich anfangs

manische Reich nannten, dahingehend Druck aus, die Privati-

im Zuge spezifischer Bemühungen des staates erfolgte, indem

sierung der Landwirtschaft weiterzuführen und die Erträge der

er versuchte, die traditionellen kapitalistischen Sektoren inner-

landwirtschaftlichen Betriebe im Interesse einer kleinen Schicht

halb seiner Ökonomie zu reaktivieren. Gegen Ende des 19. Jahr-

von Großgrundbesitzern zu steigern, auf Kosten der Kleinbauern,

hunderts wurde die Dringlichkeit unübersehbar, an die industri-

den eigentlichen Besitzern des Bodens.

elle Revolution aufzuschließen und den energischen Reformkurs fortzuführen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Die militäri-

Dahinter steckte das Ziel der europäischen Gläubiger, einerseits

sche und ökonomische Überlegenheit der europäischen Imperi-

den osmanischen Staat dazu zu drängen, für einen größeren

alisten hinderte das Osmanische Reich daran, nach dem Vorbild

Steuertopf zu sorgen und so die Rückzahlung seiner Schulden

der entsprechenden Maßnahmen Mohammed Alis in Ägypten zu

mittels zusätzlicher Einnahmen in der Staatskasse zu gewähr-

verfahren. Jene europäischen Mächte brachten auch das ägypti-

leisten. Andererseits aber auch, die Entstehung einer Schicht

sche Experiment zum Scheitern, indem sie Ibrahim Pascha an ei-

von großgrundbesitzern zu fördern, auf die sie würden einfluss

ner Modernisierung des Osmanischen Reichs hinderten, als er zu

ausüben können, indem sie sie direkt dem von ihnen unter Aus-

diesem Zwecke mit seinen Truppen über Syrien auf die Haupt-

schluss staatlicher Kontrolle beherrschten globalen kapitalisti-

stadt Istanbul vorrückte.

schen Markt angliederten. Zu diesem Zwecke drängten sie zunächst darauf, den Anbau von Produkten auszuweiten, für die

Es war also unter den Osmanen nicht die religiöse Ausrichtung

auf dem europäischen Markt Bedarf herrschte, wie etwa Baum-

des Staates, die seiner Entwicklung Steine in den Weg legte.

wolle und Seide, und gewährten dafür die erforderlichen Kredite.

Vielmehr geschah dies durch aktuelle Richtungsentscheidungen

Als Folge davon erhöhte sich die Schuldenlast der Großgrundbe-

und Ereignisse weltlicher Art infolge der Konfrontation mit dem

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europäischen Imperialismus, dessen Basis das weltweite kapita-

ria im Einklang stehen musste. Möglicherweise trug dazu in Sy-

listische System war.

rien eine allgemeine gesellschaftliche Grundhaltung bei, die von

DAS MODERNE SyRIEN

und einem undefinierten Verständnis von sozialer gerechtigkeit

einer undogmatischen, in der Tradition verankerten Religiosität geprägt war. Der moderne »säkulare« Staat Syrien entstand aus den Trümmern des Osmanischen Reichs, auf einem Teilgebiet des histo-

ISLAMISCHE PRINZIPIEN

rischen Großsyriens, also der sogenannten Levante, und kam bekanntlich sogleich unter französische Mandatsherrschaft.

Um die Unterstellung zu zerstreuen, der Islam hindere die öko-

Frankreich betrat in Syrien im Rahmen des ihm vom Völkerbund

nomische Entwicklung, sei abschließend ein kurzer Blick auf ei-

übertragenen Mandats die Bühne mit dem Ziel, die syrische Ge-

nige Grundelemente der heutigen islamischen Ökonomie gewor-

sellschaft auf die Unabhängigkeit hinzuführen und einen mo-

fen:

dernen Staat aufzubauen. Es stimmt zwar, dass die Verfassung des Arabischen Königreichs Syrien von 1920 unter König Faisal

Aus Sicht dieser Ökonomie kann Geld nicht allein aus sich

und später die während des französischen Mandats proklamier-

heraus Geld generieren. Soll heißen, Geld soll sich durch

ten Verfassungen deutliche säkulare Züge trugen. Jedoch war

realen Gewinn vermehren (und weniger werden nur durch

in allen davon festgeschrieben, dass die Religion des syrischen

realen Verlust), und zwar im Zuge direkter Beteiligung an re-

staatsoberhaupts der islam sein müsse. ferner verpflichtete sich

alwirtschaftlichen Geschäften.

der französische Mandatsstaat gegenüber dem Völkerbund dazu,

Das Grundprinzip lautet also, Geld sollte als Instrument zur

den Geist der zu Zeiten des Osmanischen Reichs, des letzten is-

Durchführung wirtschaftlicher Aktivitäten und nicht als Han-

lamischen Kalifats, geltenden Rechtsvorschriften zu wahren.

delsware an sich eingesetzt werden.

So fand in der Mandatszeit weiterhin die gemäß islamischem

Dies bedeutet, der »Gewinn« ist das eigentliche Vehikel und

Recht erhobene Landwirtschaftssteuer in Höhe von zehn Pro-

nicht der »Zinssatz«. Nach Meinung einer nicht geringen Zahl

zent Anwendung. Diese betraf die gesamten Erträge aller Län-

zeitgenössischer Ökonomen ist der Zins einer der Hauptfaktoren

dereien in Syrien, welches der osmanische Gesetzgeber davor

für die »Instabilität« in den heutigen Volkswirtschaften. So stell-

als erobertes Territorium und demzufolge als ausnahmslos der

te sich beispielsweise Milton Friedman, der Vater des modernen

Steuer von zehn Prozent unterliegend betrachtet hatte. Die von

Monetarismus, in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhun-

der Mandatsregierung getroffenen Maßnahmen, beispielsweise

derts die Frage nach dem Warum der präzedenzlosen Volatili-

in Bezug auf die Gewährung von Landwirtschaftskrediten, dien-

tät der US-amerikanischen Konjunktur. Die Antwort gab er gleich

ten den Interessen der hauptsächlich in den Städten ansässigen

mit: Diese habe ihr Äquivalent in den waghalsigen Kursschwan-

Großgrundbesitzer sowie den Interessen der mit ihnen verbün-

kungen bei den Zinsen, welche sich direkt auf die Finanzmärkte

deten aufstrebenden Fabrikbesitzer, und gingen zu Lasten der

auswirkten, die daher von einem hohen Maß an Unsicherheit be-

Landbewohner. Diese waren den Wucherern, welche ihnen Zin-

stimmt seien. Dies äußere sich in heftigen und unkalkulierbaren

sen auf die ihnen gewährten Kredite in Höhe von bisweilen 150

Schwankungen in der Realwirtschaft.

Prozent abpressten, hilflos ausgeliefert. Die Wucherer ihrerseits bezogen das Kapital für diese Kredite hauptsächlich von staatli-

Genau das ist es, was auch die Vertreter der islamischen Öko-

chen Agrarbanken zu erschwinglichen Zinssätzen. Dabei konnten

nomie betonen und worauf das heutige islamische Bankenwesen

ihnen weder Religion (eigentlich verbietet der Islam jede Art von

beruht. Zahlreiche westliche Banken sind dazu übergegangen, in

Wucher) noch weltliche Mächte Einhalt gebieten.

aufstrebenden Entwicklungsländern Filialen (oder zumindest Ab-

Ebenso blieb das osmanische Handelsrecht in Kraft. Auch lässt

von, wie etwa City Bank oder Chase Bank, haben sogar kom-

teilungen) für islamische Finanzgeschäfte zu eröffnen. Einige dasich sagen, dass sich die Gesellschaftsstruktur Syriens unter

plett islamische, vom Mutterkonzern unabhängige Geldinstitute

den Franzosen nicht wesentlich von der in der späten osmani-

ins Leben gerufen. Allein in den USA gibt es nicht weniger als 40

schen Ära unterschied. Mit der Unabhängigkeit kam die Verfas-

islamische Banken und islamische Finanzunternehmen. Auch in

sung von 1950, der weitere Verfassungen folgten, zuletzt die

Großbritannien, Dänemark, Deutschland, Österreich und Frank-

von 1973. Alle davon legten fest, dass der Staatspräsident musli-

reich existieren islamische Banken sowie Filialen und Schalter

mischen Glaubens sein müsse und dass das islamische Recht die

für islamische finanzgeschäfte. Dies ist definitiv kein ergebnis

Hauptquelle der Gesetzgebung sei. Dies bedeutete auch, dass es

eines religiös motivierten Glaubens an diese Idee, sondern ent-

mehr als eine Rechtsquelle gab, was die Möglichkeit einer zivi-

springt vielmehr der Erwartung, anlagetechnischen und wirt-

len Gesetzgebung eröffnete, die nicht unbedingt mit der Scha-

schaftlichen Nutzen daraus zu ziehen.

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DIE REALITäT KOMMT VOR DEN üBERZEUGUNGEN

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der geistigen reflexion und der kulturellen kontextualisierung zu den gesellschaftlichen Mitteln des Ausdrucks sowie der In-

Zusammenfassend lässt sich sagen: Man kann eine bestimmte

terpretation der Art und Weise, wie das der Gesellschaft als

gesellschaftliche Realität nicht verändern, indem man versucht,

Überbau dienende System konstruiert ist. Diese geistigen Mit-

das Bewusstsein und die Kultur der entsprechenden Gesell-

tel dienen dazu, die Gesellschaft (und viele andere Dinge mehr)

schaft von außen zu verändern, ohne ihre spezifischen geset-

zu verstehen; mit ihnen baut man keine Gesellschaft auf, man

ze und Regeln zu berücksichtigen. So etwas wird also nicht allein

philosophiert über sie. Damit soll der einfluss der überzeugun-

nach Belieben von Außenstehenden und ohne jedweden Res-

gen, ob religiöser oder politischer Art, auf die gesellschaftlichen

pekt gegenüber den gesellschaftlichen Besonderheiten erfolgen

(und dazu zählen auch die ökonomischen) Phänomene nicht ka-

– nicht einmal im Zeitalter der Globalisierung, der großen geopo-

tegorisch geleugnet werden. Doch es sind die realen Phänomene,

litischen Zusammenballungen und der internationalen Allianzen,

die letztendlich – vor allem im Zeitalter der Globalisierung – die

seien es politische oder religiöse.

Überzeugungen dazu zwingen, sich an die gesellschaftlichen Erfordernisse anzupassen, und nicht umgekehrt.

Allgemein gesprochen lässt sich eine Gesellschaft nicht aus einem Konvolut von Interpretationen und Symbolen, von Launen und Mutmaßungen zusammenschustern. Vielmehr entsteht

ali al-saleh

promovierte an der Universität

sie ausgehend von einer konkreten Realität, von Aufgaben und

Tübingen über arabische Wirtschaftsgeschichte und

Pflichten, die sich lokal und landesweit stellen, und ohne die

war bis 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter

es keine Stabilität und keine Beständigkeit geben kann. An ers-

am Französischen Nahost-Institut (IFPO) in Damaskus.

ter Stelle stehen die materiellen oder sinnlich erfahrbaren Pro-

Er wohnt derzeit in Deutschland.

duktionsverhältnisse, schlicht und einfach deshalb, weil sich darüber die hauptaufgaben innerhalb der gesellschaft definieren.

Übersetzung: Rafael Sanchez

Demgegenüber gehören intellektuelle Beweggründe, Ideologien,

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

Religionen, philosophische Schulen und sonstige Instrumente

November 2015

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I Tanz und Wirtschaft, Tanz und Politik, Tanz und Kritik – diese Kombination ist keine Phantasie von Avantgardekünstlern, sondern Wirklichkeit, wie die Tanzperformance »Mitumba« der international besetzten, aus Deutschland stammenden Tanzformation MOUVOIR beweist. Der Tanzkritiker Arnd Wesemann stellt das Stück vor

DIE wELTORDNUNG DER KLEIDER stePhanie thierschs »MitUMBa«, MaDe in kenia VON

ARND wESEMANN

Szene aus »Mitumba« von Stephanie Thierschs Tanzformation MOUVOIR. Hier wird die Kultur des Gebens und Nehmens dargestellt. Foto: Mouvoir.de © Goethe-Institut

In Deutschland sieht man sie im Straßenbild derart oft wie nir-

dem kisuhaelischen Wort für Altkleider, landen sie auf den rie-

gendwo sonst in Europa: Zwei Meter hohe, hochkant stehende

sigen Märkten von Mombasa und Nairobi, die nun auch die Auf-

Stahlcontainer mit einer schwergängigen Klappe. Sie stehen am

merksamkeit der internationalen Bekleidungsindustrie auf sich

Straßenrand und werden säckeweise mit abgelegten Kleidern

ziehen. Denn die Hundertschaften von Nähern und Näherinnen

und Schuhen gefüllt. Schließt sich die Klappe, dann quietscht das

auf den riesigen Märkten, die mit viel Geschick Anzüge ändern

eiserne Maul. Es soll sich anfühlen, als würde ein Tresor teure

und Röcke weiten, mitten im Gewühl und hinter Nähmaschinen,

Materialien schlucken. Wer da versehentlich ein Portemonnaie in

sie sollen künftig auch einen Grundstock von Arbeitern für nagel-

der Hosentasche mit entsorgt, hat es unwiederbringlich verloren.

neue Textilfabriken bilden, die noch günstiger als in Vietnam oder

Was mit diesen Kleidern und Schuhen passiert, weiß kaum einer.

Bangladesch billige Kleidung für Europa und die USA produzie-

Einst aufgestellt als »Kleiderspende für den guten Zweck« – für

ren: in Tansania, in Kenia, in Äthiopien.

Obdachlose, Flüchtlinge, andere Bedürftige – prangt an vielen dieser Tonnen längst nüchtern das Wort »Rohstofftonne«.

Es ist der Markt des kleinen Mannes, der die Choreographin Stephanie Thiersch inspiriert. Ihre Performance »Mitumba« beginnt

AUS ALT wIRD NEU

nicht auf der Bühne, sondern behauptet sich selbst als Marktplatz, auf dem Waren feilgeboten werden, wo Besucher Klei-

Meist wird ihr Inhalt, für »karikative Zwecke«, nach Ostafrika

der probieren und Tänzer als temperamentvolle Händler um den

verschickt – womit allein das Deutsche Rote Kreuz im vergan-

besten Preis feilschen. Es ist fast wie in Gikomba, Ngara oder Gi-

genen Jahr 12 Millionen Euro erwirtschaftet hat. Als »Mitumba«,

thurai, den großen Märkten in Nairobi, »kilometergroße Laby-

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rinthe, wo jeder Verkäufer sich spezialisiert hat: Einer handelt

Mode hungernde Frau wird buchstäblich zur Trägerin einer Mode,

nur mit weißen Männerhosen, ein anderer nur mit Babystramp-

die mit immer noch mehr Kleidern beladen, zu einer Ikone dieses

lern, und alle profitieren, sie haben Arbeit. Man trägt etwas auf

so rudimentär erscheinenden Modebusiness erstarrt.

der Haut, das jemand anderes vorher trug. Ich kaufe dort superhippe 1970er-Jahre-Kleider für 20 Cent, nehme die wieder

kooperation mit dem Goethe-institut

mit nach Deutschland, verkaufe sie hier an edle Second-HandLäden. Vielleicht könnten wir unser Projekt so finanzieren«, sin-

»Mitumba«, entstanden in Kooperation mit dem Goethe-Insti-

nierte Thiersch vor Jahren. Wo dieser Markt wie eine Industrie

tut Nairobi und dem Auswärtigen Amt 2012/13, zeigt den Han-

wirkt, gibt es in Deutschland nur noch seine Verkleinerungsform:

del mit Gebrauchtem, zu dem man getrost auch zerlegte Autos

den Flohmarkt. Stephanie Thiersch verlegt ihn in ein Museum

als Ersatzteilgräber, ja sogar den Organhandel zählen darf. Hin-

oder in ein Theaterfoyer. Es gibt sogar improvisierte Umkleide-

ter der Wiederverwertung, dem Recycling, einer spätestens seit

kabinen. Die Besucher und zugleich Zuschauer handeln ein we-

den 1980er Jahren in Europa blühenden Bewegung der Nach-

nig, zögern auch, weil die Ware nicht unbedingt gefällt, bis sich

haltigkeit, macht Thiersch das Schattenreich des Überlebens auf

unter den afrikanischen Händlern und europäischen Zuschauern

dem afrikanischen Kontinent sichtbar, dessen eigene Rohstoffe

elf Tänzer herausbilden, Charaktere in einem transkontinental

ihm oft nicht gehören und die über den Umweg Europa als Abfall

auf Augenhöhe erarbeiteten Happening, das sich aufmacht, nach

zu ihnen zurückkehren. In Europa feiert eine ökologische Bewe-

den Mentalitäten zu fragen, die dem Geist dieser Resteverwer-

gung dies als ein Erfolgsmodell, als den Eine-Welt-Markt, zumal

tung zu Grunde liegen.

Ware aus Afrika bei den Weißen ein Gefühl der Wiederkehr ih-

TANZKLEIDER DES ZUfALLS

land längst aus dem Verkehr gezogen, lösen bei Afrika-Touristen

Was im Rahmen einer solchen Aufführung gehandelt wird, sind

te, die eine dunkle Ahnung an eine sehr ferne Kindheit aufkei-

rer verlorenen Vergangenheit befriedigt. Alte Autos, in Deutschebenso Hochgefühle aus wie die lauten, hitzigen, quirligen Märkkeine anonymen Kleider, sondern Spenden aus der Nachbar-

men lassen, bevor Europa die Märkte zu rauchfreien, klimatisier-

schaft, Stücke aus dem realen Kleiderschrank. Thiersch, gelern-

ten und designten Einkaufszentren umbauen ließ, damit hier in

te Tänzerin, Romanistin und Medienkünstlerin, fragt geschickt

Europa die Einheimischen die Kleider kaufen, die in Bangladesch,

nach den Gründen, warum dieser Pullover denn geopfert wer-

China und Türkei genäht wurden und die irgendwann im Mitum-

den soll, warum jener Anzug die Sphäre des privaten Eigentums

ba von Nairobi in ihre letzte Lebensphase eintreten. Oder dort,

verlassen muss. Die Klamotten gehen ein in den Kostümfundus,

in naher Zukunft, mit Hilfe marktbeherrschenden Firmen wie

werden zu Tanzkleidern des Zufalls, indem sie den Tänzern zu-

Zara, Primark oder H&M vielleicht das Licht der Welt erblicken

fallen und sie verwandeln. Das reicht bereits, um an Mombasa

dürfen. Natürlich zu Second-Hand-Preisen.

zu denken, wo täglich Tonnen getragener Kleidung in die Stadt, das Land, das Volk geschwemmt werden und ihre Welt in einen Second-Hand-Markt verwandelt, auf dem auch Touristen Stücke

ARND wESEMANN

, seit 1997 Redakteur der Berliner

kaufen und europäische Einkäufer ihre Modeboutiquen daheim

Zeitschrift Tanz, veröffentlichte bei leesmagazijn.nl zuletzt

füllen, als sei es eben Sache Afrikas, aus den Abfällen, die diese

die Streitschrift »Made in Bangladesh« über Ausbeutung

Kleider eigentlich sind, die Perlen zu fischen. Gehuldigt wird die-

im nahen Kunst- und fernen Nähbetrieb.

ser Wiederauferstehung des Aussortierten, sehr passend, mit einem Zombie-Tanz. Auf einem Catwalk stolziert die 3b-Ware mit

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

viel Lust am farbenfrohen Kompilieren. Eine Auktion zu kleins-

November 2015

ten Geboten erinnert für einen Moment gar an einen Sklavenmarkt aus Vorzeiten, auch wenn die Träger der Kleider nur die Models und nicht die Ware sind. Kenia kauft containerweise, wie

MOUVOIR

ein Einkäufer Stephanie Thiersch erzählt, Ballen von Altkleidern,

http://www.mouvoir.de

die weiterverkauft werden an Zwischenhändler, die sortieren

de

lassen, reparieren und transportieren und damit eine lange Kette der Wertschöpfung bis in die letzten Dörfer hinein erzeugen,

MOUVOIR

während eine Tänzerin, lieblos herumgestoßen, als ein Motor die-

http://www.mouvoir.de/en/

ser chauvinistisch strukturierten Händlerkultur herhält. Die nach

en

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I Joseph Beuys’ Kunstbegriff gipfelte in dem Satz »Jeder Mensch ein Künstler«. In diesem Satz vereinen sich romantische und anthroposophische Strömungen zu einer allumfassenden Lebensphilosophie, deren zentrales Element die Partizipation ist. Was kann diese Idee der Partizipation vor dem Hintergrund der aktuellen weltwirtschaftlichen Problematik für die Kunst und die Welt einbringen?

JEDER MENSCH EIN KüNSTLER VON

KONSTANTIN ADAMOPOULOS

Joseph Beuys formulierte ein neues Kunstverständnis. Im Grun-

sellschaft gestaltet werden. Kreativer Akteur ist der Mensch, der

de handelt es sich dabei um einen sehr alten Begriff von Kunst-

sich in seiner Gestaltung auf das Belebte wie das Unbelebte, das

schaffen, der sich nicht auf einzelne Genies und einen kleinen

Sichtbare und das Unsichtbare, das Innerliche wie das Äußerliche

Fächer von Medien reduziert. Seine Sicht beinhaltet potenziell

bezieht. Wie sehr das tatsächlich gilt, spüren wir zum Beispiel an

jeden einzelnen Menschen, die Tiere, die physische und die me-

der Umweltverschmutzung, in der Krise des Kapitalismus, in wi-

taphysische Welt, wie sie sich in Spiritualität und Wissenschaft

derstreitenden religiösen Auffassungen sowie im Blick auf Frei-

ausdrückt. Beuys erkannte: »Jeder Mensch [ist] ein Künstler«.

heit, Würde und Gerechtigkeit. Nichts scheint mehr eine reine

Der frühromantische Schriftsteller Novalis hat diese Idee in sei-

»Privatsache« zu sein. Alles zeigt sich als mit allem verbunden.

nen Aphorismen von 1798 noch als Aufforderung formuliert: »Jeder Mensch sollte Künstler seyn.« Beuys machte den Satz selbst

In diesem Sinn formulierte Beuys mit seinem Begriff der »Sozi-

zu einem Kunstwerk, indem er ihn, markant verändert, auf die

alen Plastik« eine Gestaltungsaufgabe sowohl der Individuen als

nächste Stufe hob, und zwar im Sinn von: Du bist Künstler deiner

auch der Gemeinschaft. Er öffnete die Kunst und Kreativität des

Biografie (verhalte dich danach).

Einzelnen hin zur ökologisch verstandenen Gesamtheit. In einem Interview von 1973 sagte er, Öko-

ALLES IST MIT ALLEM VERBUNDEN

logie »interessiere ihn nicht direkt im aufklärerischen Sinne über, sa-

7000 Basaltstelen vor

Beuys (1921–1986) bekam schon vor dem Zweiten Weltkrieg Zu-

gen wir, ›Umweltverschmutzung‹.

dem Museum Fridericianum in

gang zu den Gedanken des sozialen und ökologischen Reformers

Ich bin […] intensiv an Ökologie in-

Kassel. © Stiftung 7000

und Anthroposophen Rudolf Steiner. Nach einem tieferen Einstieg in die Naturwissenschaften, vornehmlich Botanik, Zoologie, Geografie und deren Methodik, studierte er ab 1946 an der Düsseldorfer Kunstakademie Bildhauerei, ab 1947 bei Eward Mataré, dessen Meisterschüler er 1951 wurde. Zweifel an der klassischen Kunstauffassung und deren Formensprache führten in den 1950er Jahren bei ihm zu einer tiefen Sinnkrise, die er im Schutz einer anthroposophischen Bauernfamilie am Niederrhein mit täglicher Feldarbeit und Zeichnen durchlebte. In dieser Phase von Seelennot und Identitätszweifel wurde ihm deutlich, inwiefern er den Kunstbegriff zu erweitern hatte. Aus der Kunst als Haltung heraus sollen alle gemeinschaftlichen Belange der Ge-

Eichen. Foto: Dieter Schwerdtle

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teressiert, allerdings nicht nur an der des äußeren Environments,

Form bzw. deren Umwandlung. Die wirkte spontan in mir. Ihre

auch an innerer Ökologie – Gedanken, Gefühlen und Treibkräften

Kapazität war unüberwindlich, unabweislich, unabänderlich. Es

– den wirklichen Kräften des Menschen, ohne deren Veränderung

war eine totale Wucht, die mich innerlich umhaute und verstum-

wir nie das gegebene Environment verändern können.« Steiner

men ließ. Diese Kraft spüre ich bis heute, materiell und geistig,

sprach in diesem Sinn 50 Jahre zuvor in seiner Philosophie der

und meine damit verbundene Überforderung.

Freiheit von einem ethischen Individualismus, der sich denkend, fühlend und wollend spirituell verstand.

Beuys Kunstaktion sah vor, die 7000 Steine in einzelnen Teilaktionen vom zentralen Ort abzuholen und im gesamten Stadt-

Man könnte diese Erkenntnisse auch so umschreiben: In jedem

gebiet aufzurichten. Zur Idee gehörte es, bis zur nächsten do-

Mensch lebt etwas, was in anderen nicht lebt. Ein gelungenes

cumenta, also im Lauf von fünf Jahren, daneben jeweils einen

Leben bedeutet, dieses individuell Besondere hilfreich für alle

Jungbaum zu pflanzen und so eine Wechselwirkung zwischen or-

wirksam zu machen. Dazu brauche ich die Auseinandersetzung

ganischer Materie und Natur herzustellen. Es ging um nichts we-

mit anderen, um daran meine eigene Fähigkeit zu entdecken.

niger als die Verdopplung des damaligen Baumbestands Kassels.

Entwicklung braucht diesen weiteren Schritt, zu dem wir uns

Mit der Aktion 7000 Eichen bezog Beuys gleich zwei Ausstellun-

nur gegenseitig einladen können. Dabei geht es auch um Hei-

gen, die 7. und die 8. documenta, sowie die Zeit dazwischen mit

lung, zum Beispiel von Angst und Sicherheitsdenken. Wir sind als

ein. »Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung« war das soziale

Menschheit miteinander verbunden, schon vor der Verschmel-

Kunstmotto. Es kam zu Protesten. Viele regten sich über ihn und

zung der Ei- und Samenzelle bis nach unserem Tode, wo weiter

seine Aktion auf.

wirkt, was wir an Ergebnissen unseres Lebens hinterlassen, an Kräften, an Vollendetem und an Unvollendetem.

Doch Beuys verstand die Aktion als soziale und ökologische

Tagtäglich erkennen und setzen wir uns Ziele und Aufgaben, die

Spitze der Ausgangsskulptur, des Dreiecks aus Basaltstelen, ein

Kunst zwischen Menschen. Als Zeichen des Beginns war an der wir zukünftig erreichen und bewältigen wollen. Dadurch reichern

erster Stein aufgestellt und ein erstes Bäumchen dazu gepflanzt

wir unsere Gegenwart mit Zuversicht an und erklären aus den

worden. Dies Unterfangen erschien mir aussichtslos, hoffnungs-

später gemachten Erfahrungen rückwirkend unsere Vergangen-

los, erbärmlich und gleichzeitig kühn, unverfroren, erhaben. Hier

heit immer wieder neu. Kreative Gestaltung reicht also über die

unternahm jemand ernsthaft ein Projekt, das er allein nicht be-

Kunst in klassischem Sinn wie in Musik, Literatur, Architektur, bil-

werkstelligen konnte, weder finanziell noch was die praktische

dender Kunst hinaus und lässt jeden Einzelnen seine individuel-

Ausführung betraf. Beuys begab sich offensichtlich mit all seiner

le Biografie formen, eingebunden in seine Gemeinschaften und

Kraft in die Hände unzähliger anderer Menschen. In einem Doku-

Rollen, Überzeugungen, Wahrheiten und Unwahrheiten. Beuys

mentarfilm sagte er: »Daher bin ich natürlich auch auf die Men-

erweiterte die Aufgabe der Kunst hin zu Orientierung: Ohne das

schen angewiesen, die diese Idee erkannt haben, als eine öko-

Bewusstsein, in kosmische Kräfte und Umstände eingebunden zu

logisch richtige, also als eine soziale Kunst, als eine ökologische

sein, werden wir wohl kaum weiterkommen. Gleichzeitig handeln

Kunst.« Fakt ist, dass diese Geste nicht nur mich beeindruckte.

wir (bestenfalls) aus eigenem inneren Anlass und eigener Er-

Es war ein ordentlicher Skandal mit Streitgesprächen jeder Cou-

kenntnis heraus und einander korrigierend.

leur, Häme und Gegenwehr. Die Menschen in Kassel nahmen die Einladung nichtsdestotrotz an oder gerade auch deswegen. Kin-

STADTVERwALDUNG STATT STADTVERwALTUNG

dergärten, Altenheime, Hochschulen, selbst die Stadtverwaltung, aber auch freie Initiativen begannen, sich darüber Gedanken zu

Die erste große Kunstausstellung, die ich besuchte, war 1982 die

machen. Ob sie sich als Teil eines größeren Kunstwerks, als Teil

documenta 7 in Kassel. Einundzwanzigjährig kam ich mit mei-

eines Organismus erlebten, ist schwer zu sagen. Sicher konnten

nen Freunden direkt auf dem Friedrichsplatz an. Wir stießen vor

sich die meisten insofern damit identifizieren, als sie mit dem

dem Hauptausstellungsgebäude auf 7000 Basaltstelen, die dort

Pflanzen der Bäume auch ein Zeichen gegen ihre eigene Ohn-

unübersehbar aufgeschichtet waren. Sie wirkten wie ein Wall.

macht setzten. Unzählige Menschen machten sich auf, die Stein-

Durch Fotos von damals weiß ich heute, dass die Steine in Keil-

halde vor der Kunsthalle Fridericianum durch ihre jeweiligen Ak-

form zu einem spitzen Dreieck gelegt waren. Die je 50 bis 100

tivitäten zu transformieren.

Kilogramm schweren Basaltsäulen waren zwischen 1,50 und 2 Metern lang und hatten damit durchaus menschliche Dimensio-

In Kassel wurde exemplarisch die Tat eines einzelnen Menschen

nen. Im Rückblick erzeugen sie in ihrer Ähnlichkeit zueinander, in

ernst genommen und in eine gemeinschaftliche Initiative über-

Form, Materialität und gleichzeitig ihrer Eigenartigkeit etwas von

führt. Ein Einzelner übergab es an viele, die es für sich und

übereinander geworfenen gedanklichen Möglichkeiten. Die Stein-

für das Ganze auf dezentrale Weise transformierten. Aus dem

masse strahlte eine unermessliche Bildkraft aus. Es ging um Po-

Anfangsbild eines Keils aus aufgeschütteten Steinstelen wur-

tenzialität und um die Wechselwirkung von Materie und höherer

den einzeln organisierte Gemeinschaftsaktionen mit Bäumen im

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

37

städtischen Raum. Die ursprünglich eher als erdrückend wahr-

fien sind wir in historische, soziale, weltanschauliche, religiö-

genommene Steinmaterie wird im Vergleich zu den wachsenden

se Kontexte eingebunden, die wir in und mit unserer Biografie

Bäumen kleiner und kleiner. Diese Bäume beleben bis heute auf

wiederum mitgestalten und verändern, und zwar indem wir die-

ihre beiläufige Art und Weise das Stadtbild Kassels.

se Umstände annehmen, stützen, aufblühen lassen, ignorieren,

VERHäLTNISSE LASSEN SICH äNDERN

sere Kinder so oder so, mehr oder weniger bewusst, weiterge-

Was kann die Idee der Partizipation bewirken? Die Bedingun-

lichen Irrungen und Umwege, letztendlich hilfreich für das Ganze

gen für Partizipation konstruieren wir Menschen selbst. Die Fra-

zu werden.

korrigieren, verschärfen, propagieren und indem wir sie an unben. Ziel des individuellen Tätigseins ist es dabei, trotz aller mög-

ge stellt sich, ob mein Ich damit blüht, ob meine geistige Identität unter diesen Umständen zu ihrer ureigenen Aufgabe findet, wie

Rudolf Steiner hat die Begegnung zwischen Menschen als Sak-

es Jelle van der Meulen in seinem Buch Herzwerk herausstellt.

rament gedeutet. Schon vorgeburtlich leben wir in Beziehun-

Für ihn basiert Civil Society »auf der Idee, dass freie Bürger freie

gen, treten durch die Geburt in ein zunehmend wahrnehmba-

Initiativen ergreifen können, die sich quer durch Staaten und Or-

reres Geflecht von Begegnungen. Kommunizierende Hüllen wie

ganisationen ziehen.« Im freien Zusammenspiel der nicht-institu-

Eltern, Familie, Gemeinschaft werden uns nicht nur passiv zu-

tionalisierten Bewegungen und von gesellschaftlichen Initiativen

geteilt, sondern wir gestalten diese Hüllen aktiv von Anbeginn

und einzelnen Menschenkräften erwächst eine neue Qualität der

selbst auch mit. Seelische und medizinische Folgen dieser Wech-

Kreativität. Damit stärkt sich ein dritter Gesellschaftssektor ne-

selwirkungen sind so groß, dass wir sie gar nicht ausreichend

ben der bisher dominierenden Staatsgewalt und der Ökonomie.

überblicken können. In den Begegnungen verhandeln wir das Irdische und das Geistige, das uns trägt und das wir zugleich

Verhältnisse lassen sich ändern. Ist die friedliche Revolution

verkörpern. Emphatisch gesprochen, trägt Partizipation im in-

Ende der 1980er Jahre im Osten Deutschlands nach 25 Jahren

nersten Kern schon von Anbeginn zur Welt wie gleichermaßen

noch ein ermutigendes Beispiel dafür? Im Sinn eines künstle-

wechselseitig zur Konstitution des Ich bei. Wir sind in Partizipati-

risch-gestalterischen Freiheitsimpulses sind die zahllosen selbst-

on – oder wir sind nicht.

organisierten Initiativen und ihre verbindende Kraft, die zum Fall der DDR als Staatssozialismus führten, sicher noch nicht hoch ge-

Das kapitalistische Wirtschaften beruht auf individuellen und

nug angesehen. Dem möglichen Kreativitätsschub durch die un-

kollektiven Ängsten und Nöten und fördert auf dieser Grundlage

übersichtlich vielen Kräfte misstrauten die Eliten.

den Wettbewerb. Muss das so bleiben? Kann das so bleiben? Die Wettbewerbswirtschaft, der wir zum Teil sehr viel verdanken,

»Politik braucht es für mich nicht zu geben. Der Gestaltungsbe-

konfrontiert uns zunehmend mit individuellem und kollektivem

griff für alle Aufgaben, die die Menschen auf der Erde haben, ist

Elend, mit der Zerstörung seelischer Kreativität, mit globalen

der, der in der Zukunft zum Tragen kommen wird«, sagte Beuys

Ressourcenproblemen, mit extremer Ungleichheit in der Vertei-

in dem genannten Interview.

lung der Ressourcen und Reichtümer und schließlich mit dem Klimawandel. – Auch in der Wirtschaft selbst werden Verbindungen

PARTIZIPATION UND wIRTSCHAfT

und Kooperationen über »Wettbewerbergrenzen« hinweg mittlerweile als überlebenswichtig erkannt.Die wirtschafts-kulturelle

Ausgehend von dem hier geschilderten Kunstbegriff bei Beuys

Frage wäre hier, wie Transformation vom Wettbewerb zu einem

können wir über die Zusammenhänge von Wirtschaft und parti-

Miteinander aussehen könnte.

zipativer Kunst wie der von Beuys Folgendes debattieren: Gemeinwohlökonomie ist also ein Thema, das jeden betrifft, Künstlerisches und wirtschaftliches Tun sind Teil der jeweiligen

auch wenn es hier und da unterschiedlich formuliert, verstanden

gesellschaftlichen Kultur, in der wir hier oder dort, gestern oder

oder auch manipuliert wird. Die ökologische Frage wird zur glo-

heute leben. Kunstschaffen und wirtschaftliche Tätigkeit sind

balen Gestaltungsfrage für die Menschheit. Wir partizipieren alle

beides Formen der menschlichen Betätigung und als solche un-

daran, die abhängigen wie die möglicherweise weniger abhän-

terliegen sie historischen, regionalen, globalen, antizyklischen

gigen »Player« in der Wirtschaft. In welcher Welt wollen wir le-

Gestaltungsfaktoren.

ben? Partizipation ist eine generationsübergreifende Aufgabe geworden.

»Jeder Mensch ein Künstler« meint nicht, dass jeder Mensch ein Maler, Musiker, Architekt, Literat oder Schauspieler sein soll, son-

Als Mensch möchte ich Teilnehmer an der Gestaltung oder gar

dern dass jeder in und an seiner Biografie gestaltend aktiv ist.

Transformation unserer Welt sein. Und ob ich will oder nicht,

Selbst Passivität ist in diesem Sinne eine gestaltende Aktivi-

bin ich immer schon Teilnehmer der tagtäglichen Transforma-

tät. Als Gestaltende (oder ‚Künstler‘) unserer jeweiligen Biogra-

tion meines Lebens. Dazu gehört auch, zu sagen, was ich nicht

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

(mehr) will, z. B. Massentierhaltung, Atomenergie, Parteiendiktatur. Ich möchte meine individuellen Zweifel und Fragen äußern,

38

KONSTANTIN ADAMOPOULOS

ist Kunsthistoriker,

Kulturvermittler, Coach. Sein Schwerpunkt liegt im Bereich

auch wenn ich (noch) keine Alternative habe. Ich brauche dazu

»Kunst und Unternehmen«. Seit 2005 leitet er das

jedoch all die anderen vor mir, mit mir, nach mir. Ich brauche

»Bronnbacher Stipendium – Kulturelle Kompetenz für künftige

geistige Eingebungen, geistiges Verbundensein mit allen Existen-

Führungskräfte« des Kulturkreises der deutschen

zen. Was ich als Mensch diskutieren und gestalten möchte, dafür

Wirtschaft. 2013 war er für das Goethe-Institut Curator

möchte ich Verantwortung tragen, weil nur ich, der Mensch unter

in Residency in Detroit.

Menschen, Verantwortung übernehmen kann. Das kann eine Systemlogik niemals tun, auch wenn sie als noch so optimiertes Uhr-

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

werk gedacht wäre. Meine Verantwortung kann ich nicht abge-

November 2015

ben. Partizipation, wie unbestimmbar sie im Einzelnen sein mag, ist also auch eine Standortbestimmung der sozialen Kultur, der individuellen Biografie, der Kunst, der Wirtschaft, der Spiritua-

7000 Eichen

lität. Wie wird Partizipation zwischen Menschen lebendig? – Je-

http://www.7000eichen.de/

der Gedanke zählt.

de

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

39

I Die international arbeitende deutsche Künstlerin Susanne Bosch erklärt in diesem Beitrag, wie das Konzept der Partizipation in der Kunst entstanden ist und gegenwärtig diskutiert wird. Sie erklärt, warum sie selbst dieser Art der künstlerischen Arbeit zuneigt und was die Ziele dieser neuen Form der Kunst sind. An einem Beispiel aus ihrer Arbeit in der islamischen Welt erläutert sie, wie sie selbst diese Kunstform umsetzt.

ZwISCHEN POLITIK UND äSTHETIK PARTIZIPATION IN DER KUNST VON

SUSANNE BOSCH

Die bildende Kunst macht »Utopien« seit Jahrtausenden immer

Als Künstlerin interessiere ich mich seit mehreren Jahren für Ini-

wieder zu ihrem Inhalt. Die Theorie der »Sozialen Plastik« des

tiativen, die selbst-initiiert an Themen wie lokaler Versorgung,

Künstlers Joseph Beuys besagt, jeder Mensch könne durch krea-

kooperativem Wirtschaften und Gemeinschaftsbildung arbeiten.

tives Handeln zum Wohl der Gemeinschaft beitragen und da-

Diese still anwachsende weltweite Bewegung versucht auf die

durch »plastizierend« auf die Gesellschaft einwirken. Künstleri-

aktuellen globalen Herausforderungen zu reagieren. Was diese

sche Prozesse müssen sich aktiv in die Gesellschaft einbringen,

heterogene Bewegung tut, ist für mich ein Kunstwerk im

soll es um ein kreatives Gestalten von Gesellschaft und nicht nur

Beuys’schen Sinne, das sich auf spannende Art mit der Gestal-

um Kunst als solche gehen. Claus Leggewie und Harald Welzer haben dabei einige der Fragen, die auch mich beschäftigen, exemplarisch formuliert: Wie sollen Demokratien auf die Krisen in Ökonomie und Ökologie gerecht und nachhaltig reagieren? Finanz- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, schwindende Ressourcen und der Raubbau an der Zukunft der kommenden Generationen bilden einen beispiellosen sozialen Sprengstoff. Die Analyse der sich auftürmenden Krisen zeigt, wie Demokratien dabei unter die Räder kommen, wenn sie nicht radikal erneuert werden und den Weg aus der Leitkultur der Verschwendung finden. Ist es möglich ein System, welches auf ununterbrochenem Wachstum basiert, zu einem ökonomischen und Sozialsystem zu verwandeln, dass stattdessen auf Gerechtigkeit und Lebensqualität basiert?

Poster für eine Veranstaltung zum Thema A Miracle in the Holy Land?, die im Rahmen des Projektes Jericho – Beyond the Celestial and Terrestrial am 5. Januar 2013 an der International Art Academy Palestine in Ramallah stattfand. Diskussionsteilnehmer waren Salim Tamari, Direktor des Institute of Palestine Studies und Lehrbeauftragter am Center for Contemporary Arab Studies der Georgetown University, und die Künstlerin Susanne Bosch. © Goethe-Institut

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

40

tung einer zukunftsfähigen Lebensweise auseinandersetzt. Diese

sign]fachleuten die mit [marginalisierten] sozialen Gruppen vorzie-

Initiativen gehen von einer Idee in die Tat über, und dieser Schritt

hen, und die an der Entwicklung des politischen Bewusstseins von

heißt oft, selbst-initiiert völliges Neuland zu betreten, sich also

Gemeinschaften arbeiten.

selbst zu erfinden. Diese drei hier angesprochenen Paradigmen der Kunst im öffentGEBEN UND NEHMEN

lichen Raum – das skulpturale, das ortsbezogene und das kon-

Als Künstlerin interessiere ich mich dafür, welche Haltungen,

Veränderung von Kunst, die eine Orientierung hin auf soziale

Strukturen und Methoden dazu beitragen, die Welt gemeinsam

Prozesse erfahren hat:

textbezogene Paradigma – reflektieren laut Kwon eine komplexe

so zu gestalten, wie wir sie uns wünschen, wie sie lebenserhaltend, friedlich und klimafreundlich sein kann. Neben meinem

Die Verschiebung des Schwerpunkts von ästhetischen auf soziale

künstlerischen Können, lerne ich unentwegt von eben jenen glo-

Anliegen, von einer primär objektzentrierten Vorstellung vom

balen Bewegungen über Methoden, Strukturen und Haltungen,

Kunstwerk hin zu ephemeren Prozessen und Ereignissen, von per-

die gemeinschaftliches solidarisches Handeln ermöglichen. Wie

manenten Installationen zu temporären Interventionen, vom Pri-

und wann findet kollektive Intelligenz, Zusammenarbeit und

mat der Produktion als Quelle von Bedeutung hin zur Rezeption

Selbstorganisation statt? Hängt dies vom Grad an entwickelter

als Ort der Interpretation, schließlich von der Autonomie der Au-

Demokratie ab, hat es überhaupt etwas mit einer Idee von De-

torschaft hin zu ihrer vielheitlichen Auffächerung in partizipatori-

mokratie zu tun?

schen Projekten.

Beteiligungsmodelle und -formen resultieren grundsätzlich aus ei-

fRAGE DER QUALITäT

ner Unzufriedenheit der Künstler mit dem Status Quo. Unzufriedenheit mit den künstlerischen Rahmenbedingungen auf der einen,

Dabei ist die Qualität der hier angesprochenen ephemeren Pro-

mit den kulturellen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen

zesse von entscheidender Bedeutung. Viele Kunstaktionen ver-

auf der anderen Seite sowie mitunter eine Kombination aus bei-

harren bei Gesten in einem allein der Kunst vorbehaltenen Raum

dem – das war und ist bis heute die wichtigste Motivation für

und greifen nicht auf die Potentiale zurück, die in einer Wechsel-

Künstler, alternative künstlerische, z. B. partizipatorische Strategi-

wirkung von Beobachtung und Produktion liegen und die von

en und Praxen der Entwicklung, Produktion und Distribution zu

Mary Jane Jacob in Anlehnung an Joseph Beuys als eine »Kraft-

entwickeln […], wobei mal künstlerische, mal gesellschaftliche / po-

Wärme-Kopplung« benannt werden. Wie in allen anderen Struk-

litische Impulse, Fragestellungen, Verbindungen und Ziele im Zent-

turen, die Beteiligungsgrade und -formen in unterschiedlicher In-

rum standen.

tensität zulassen, kann man feststellen: Je mehr Kommunikation, Dialog, Respekt, Demut, etc. bewusst gestaltet und wahrgenom-

Die Theoretikerin Miwon Kwon beschreibt in einem Essay von

men wird, je offener dieser Raum ist, je mehr Vertrauen es in die

1997 welche bemerkenswerten Veränderungen künstlerische

Kompetenz der Gemeinschaft gibt, desto aktiver wird sich diese

Praxisformen im öffentlichen Raum in den vergangenen dreißig

Gemeinschaft einbringen. »Einbringen« heißt schlussendlich eine

Jahren erfahren haben. Nach ihr können drei Paradigmen sche-

Verantwortungsgemeinschaft werden, die ihre Pflichten und

matisch unterschieden werden:

Rechte wahrnimmt, die aktiv mitentscheidet.

Kunst im öffentlichen Raum, typischerweise modernistische ab-

Silke Feldhoff definiert Partizipation in der Kunst folgenderma-

strakte Skulpturen im Außenraum, die städtischen Raum ›ver-

ßen: Eine künstlerische Setzung ist also dadurch als eine ›partizi-

schönern‹ oder ›bereichern‹ sollen, besonders auf den Vorplätzen

patorische‹ gekennzeichnet, dass sie ein Angebot zu intellektueller

von Amtsgebäuden oder Bürohochhäusern; Kunst als öffentli-

Teilhabe (rein geistiger Nachvollzug einer künstlerischen Arbeit)

cher Raum, weniger objekt-orientierte und stärker ortsbezoge-

macht oder zu einer sozialen Teilhabe (Bewusstseinsbildung, Nach-

ne Kunst, die eine intensivere Integration von Kunst, Architek-

vollzug bestimmter sozialer Prozesse, Einbindung in Entschei-

tur und Umgebung anstrebt, wozu KünstlerInnen mit den für die

dungsprozesse) oder körperlichen Teilhabe (konkrete aktive physi-

Stadtgestaltung Verantwortlichen (aus den Bereichen der Archi-

sche Beteiligung) einlädt. Das Fokussieren prozessualen Arbeitens

tektur, Landschaftsarchitektur, Stadtplanung, Urban Design und

statt des Produzierens finaler Werke ist ein weiteres Kriterium. Die

Stadtverwaltung) bei dauerhaften Stadtentwicklungsprojekten wie

Konzentration auf gesellschaftlich-soziale Aspekte hingegen ist le-

Parks, öffentlichen Plätzen, Gebäuden, Promenaden, Siedlungen

diglich eine häufig anzutreffende aber nicht notwendige Ausfor-

etc. zusammenarbeiten; und schließlich Kunst im öffentlichen In-

mung enpartizipatorischen Arbeitens. Gerade bei dem Kriterium

teresse (oder »New Genre Public Art«), oft temporäre städtische

der ‚aktiven Teilhabe’ gilt es, Partizipation von Interaktivität oder

Projekte, die sich stärker mit sozialen Themen als mit der bauli-

kollektivem Handeln zu unterscheiden. Eine solche Trennung wur-

chen Umgebung befassen und die einer Zusammenarbeit mit [De-

de in Kritik und Theorie oftmals nicht vorgenommen. Die begriffli-

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

41

che Unschärfe, welche die Diskussion um partizipatorische Projek-

ersten Kategorie und ich respektiere sehr den kraftvollen Ein-

te heute kennzeichnet, hat hier eine ihrer Ursachen.

fluss des zweiten Ansatzes. Im Folgenden gebe ich zwei Beispiele aus meiner künstlerischen Praxis.

An dieser Stelle möchte ich auf meine Verbindung zu der am Beginn meines Artikel im Zitat von Claus Leggewie angesprochenen weltweiten Nachhaltigkeitsbewegung zurückkommen. Die dort praktizierten ethischen Kriterien basieren auf der Idee von Ver-

Beispiel Jericho –

bundenheit durch Teilhabe an einer Gemeinschaft. Das Problem

Beyond the Celestial and Terrestrial

im existierenden Kunstkontext, inklusive dem Kunstmarkt, ist ein

4th Edition of Cities Exhibition,

permanentes Beharren auf Autorschaft, Einzigartigkeit und

Palästina, 2011–2013

künstlerischer Autonomie, was allesamt trennende Elemente sind. Vielfach wurde eine Abschaffung dieser Kriterien für parti-

Mit dem folgenden Projekt »Changemakers« bewarb ich mich auf

zipatorische Kunstprojekte gefordert, und die Verortung und Be-

eine öffentliche Ausschreibung des Birzeit Museums in Birzeit,

wertung dieses Kunstgenres im existierenden Kunstsystem bleibt

Palästina. Als eine von fünf ausgewählten KünstlerInnen (außer

eine offene Frage. Partizipativ arbeitende KünstlerInnen leben

mir noch Iyad Issa, Samah Hijawi, Sarah Beddington, Shuruq

oft in der Ambivalenz zweier Systeme. Ständig sind sie in Gefahr,

Harb) ließen wir uns auf einen ca. einjährigen Prozess ein, indem

sich selber aus dem einen oder anderen Diskurs zu verbannen.

wir eingeladen waren, uns mit der Stadt Jericho auseinanderzu-

Darf oder muss sogar ein partizipatorisches Kunstprojekt im

setzen. Der Prozess teilte sich in drei Phasen: Vorort-Recherche,

Kontext eines Museums oder einer Biennale eine Rolle spielen,

die in einem Buch veröffentlicht wurde, eine partizipatorische In-

und wenn ja, wie kommt es dorthin und wird angemessen veror-

tervention vor Ort und schließlich eine Ausstellung im Birzeit

tet?

Museum.

Das Geben und Empfangen bildet die Basis für Verbundenheit

Von Vera Tamari gegründet, war die ursprüngliche Idee des Kon-

und Co-Intelligenz sowie Co-Kreation. Diese innere Haltung muss

zepts Cities Exhibition, die Aufmerksamkeit auf eine Vielzahl von

sich in der angebotenen Form, also durch die Wechselwirkung

Beziehungen zwischen Menschen, Ort und Zeit zu richten und so-

von Beobachtung und Produktion, widerspiegeln. Menschen ha-

mit die Einzigartigkeit jeder palästinensischen Stadt in ihrer

ben ein feines Sensorium für echte Einladungen zu Teilhabe und

Jetztzeit hervorzuheben. Cities Exhibition versuchte, über die ty-

können diese schnell unterscheiden von andersmotivierten, aber

pischen Darstellungen von Nostalgie und Folklore in Palästina hi-

identisch aussehenden Formaten. Aus diesem Grund spielen Fak-

naus das Nebeneinander von vergangener und zeitgenössischer

toren wie Interessen der einladenden Organisation oder Instituti-

kultureller Realität aufzuzeigen, nicht nur, um die Einzigartigkeit

on, Konditionen von Geldgebern und Bedingungen von anderen

der Städte wie Jericho zu bekräftigen, sondern auch, um Fragen

Förderern für das Gelingen dieser Kunstpraxis eine entscheiden-

der Erinnerung, Identität und des Wandels zu evozieren. Yazid

de Rolle.

Anani, der Kurator dieses Projektes, lud dazu uns fünf KünstlerInnen ein, Jericho mit einer Serie von »Routen« zu erkunden.

Ästhetik der Beziehungen In meiner Recherchephase, die sich darauf fokussierte, mit Hilfe Beziehungen sind in dieser Kunstarbeit zentral. In der partizipa-

von geomantischen Herangehensweisen herauszufinden, warum

torischen Kunst spricht man von einer Beziehungsästhetik. Es

dieser Ort historisch und gegenwärtig immer wieder eine Rolle

geht um »Liebesprozesse«. Elemente dieser Ästhetik sind Teil

spielt, traf ich durch »Zu-Fall« auf ein mir bis dahin unbekanntes

des Alltags und zugleich Bestandteile einer ungewöhnlichen, weil

Projekt, der Arab Development Society (ADS). Sie wurde in den

letztlich unsichtbaren Skulptur. Beuys bezeichnet diese Haltung

1950er Jahren von Musa Alami gegründet und existiert teilweise

als »unsichtbare Skulptur«, als Formungen, die zuerst im unsicht-

bis heute. Hinter diesem Projekt steht die Idee eines gemeinsa-

baren Beziehungsraum stattfinden, bevor sie sich im Konkreten

men, kooperativen, sozialen Handelns, des kollektiven Lernens,

materialisieren. Niemand kann sie je als Ganzes sehen.

räumlicher Besiedlung und Nahrungsmittelkultivierung.

Die Kunsthistorikerin Claire Bishop unterscheidet zwischen zwei

Musa Alami, der Gründer, hatte die Überzeugung, dass es Wasser

künstlerischen Strategien, um den Raum für partizipatorische

im Jordantal geben müsse. Nachdem tatsächlich Wasser auf dem

Kunst zu eröffnen oder herzustellen: Eine ist eine Kunstpraxis,

erworbenen Wüstengrundstück nach monatelangem Graben ge-

die durch künstlerische Gesten des sozialen Einwirkens eine Al-

funden wurde, etablierte sich eine gemeinnützige Organisation,

ternative zu sozialer Ungerechtigkeit bietet. Die zweite ist ein

eine landwirtschaftliche Schule und eine Versuchsfarm mit bis zu

künstlerischer Ansatz, der die Situation primär mit ihren eigenen

300 BewohnerInnen. Es wurden mehrere Generationen Palästi-

Spielregeln konfrontiert. Meine Praxis gehört ohne Zweifel zur

nenser berufsbildend geschult. Die ADS besteht noch heute als

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

42

Farm für Milchprodukte, Datteln und Fische, die große Teile der

Lebensraumes verleidet hat. Man bewegt sich durch die ver-

Westbank mit ihren lokalen Produkten beliefert. 65 Menschen

schiedenen Verwaltungszonen A, B und C im Auto, im Bus oder

arbeiten auf der Farm und 21 Familien leben auf dem großzügig

eben gar nicht. Historisch sind PalästinenserInnen jedoch tief mit

gestalteten Gebiet.

ihrem agrikulturellen Land verbunden durch Begehung, durch Treiben von Vieh über die Berge, durch Ernteprozesse. In Kunst

NäCHTLICHE wANDERUNG

und Literatur gibt es einen reichen Schatz an Ausdrücken für die Schönheit des Landes und der Natur. Die Seele der Palästinense-

Von der in Jericho entstandenen Serie an Arbeiten möchte ich

rInnen ist tief verwurzelt in dieser Landschaft. Dass der Raum

hier auf eine partizipative Intervention vor Ort eingehen: Am 3.

heute dennoch nicht erfahren werden kann, hat eine Trennung in

Oktober 2012 lud ich die Menschen dazu ein, zusammen in einem

vielfacher Form erzeugt: Herkunft von Material und Nahrung

Schweigemarsch durch die Nacht zu laufen. 70 Personen erschie-

sind unbekannt, Verortung von Familie und Abstammung spielt

nen an der Ein Dyuk Quelle unterhalb des Bergs der Versuchung.

keine Rolle mehr, Achtung von Natur und Landschaft findet nur

Wir liefen weit über 3 Stunden schweigend als Kette hintereinan-

aus der Distanzperspektive statt.

der durch die Landschaft von Jericho, angefangen in den Bergen, entlang der Bewässerungskanäle durch die Felder, weiter durch

Die meisten TeilnehmerInnen waren PalästinenserInnen der West

die Besiedlung und Innenstadt von Jericho, um dann die letzte

Bank, viele aus Jericho selbst und etliche hatten noch nie in ih-

Phase in die flache Wüstenlandschaft Richtung Jordanien zu ge-

rem Leben diese Landschaft erlaufen. Der Rahmen gab Personen

hen und in der heute leeren Schule der ADS zu enden. Dort bra-

aller Altersstufen und Geschlechter die Chance, in einem klaren,

chen wir das Schwiegen, reflektierten diese Erfahrung des ge-

sicheren Rahmen ihren Lebensraum anders wahrzunehmen.

meinsamen Begehens von Raum und beendeten die Aktion mit einem Nachtessen unter freiem Himmel in nun erträglicher Hitze.

Gemeinsam in Stille zu laufen scheint kein ungewöhnlich kreati-

In diesem performativen Akt des Begehens von Raum ging es um

ver Akt. Zwei Dinge machten dieses Laufen dennoch zu einem

das kollektive Erzeugen von Raumwissen durch Erfahrung. Das

künstlerischen und partizipatorischen Akt: Das Format war be-

schweigende Miteinanderlaufen (immer den Rücken des anderen

wusst gestaltet in seiner sichtbaren und unsichtbaren Kompo-

vor einem) erzeugte ein Gefühl von Zusammenhalt ohne dass

nente und somit als gemeinsame Performance für alle erlebbar.

man miteinander verbal oder non-verbal kommunizieren musste.

In diesem Kontext, wo eine Landschaft aus politischen Gründen

Wir einigten uns über Grundregeln des Miteinanders beim Lau-

weitestgehend unbegehbar ist, beinhaltet der Akt des bewussten

fen:

Gehens eine Komponente von zivilgesellschaftlicher Stärkung

Ich bleibe in völliger Stille.

genden gemeinsam zu gehen, andere nahmen die Möglichkeit

und von lokaler Resilienz. Einige Teilnehmer begannen im FolIch werde in einer Linie gehen.

des Begehens überhaupt erstmalig in ihr Bewusstsein auf. Ich

Ich werde der Person vor mir folgen.

selber hatte die einmalige Chance, diesen nächtlichen Raum in so

Ich werde mein Handy ausschalten und es nicht verwenden.

einer Form als geborgen wahrnehmen zu können.

Ich mache keine Fotos. Ich werde nicht rauchen. Ich werde nicht auf direkte Ansprachen von vorübergehenden PassantInnen reagieren.

SUSANNE BOSCH ,

geboren 1967, ist Künstlerin und

Kunstforschende. Von 2007 bis 2012 leitete sie den Masterstudiengang »Art in Public« an der Ulster University

Wir hielten zweimal für Wasser und WCs. Auch diese Zeit ver-

in Belfast. Sie promovierte 2012 zu dem Thema künstlerischer

brachten wir still. Manche schrieben Dinge auf, die in ihrem Kopf

Partizipation und Zivilgesellschaft. Häufig arbeitet sie

schwirrten. Laufen im Dunkeln schärft andere Wahrnehmungs-

mit dem Goethe-Institut zusammen.

sinne, das Riechen, das Hören und die Körpersinne. Das Schweigen erlaubt das Zuhören nach außen, aber auch den inneren

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

»Lärm« wahrzunehmen. Sich Landschaft zu erwandern erzeugt

November 2015

eine andere Form von Verbundenheit zu dem Ort. Das Tempo ermöglicht eine völlig andere Realisation von Ort. Susanne Bosch Ich wusste von meinen vielen Aufenthalten vor Ort, dass die Ok-

http://www.susannebosch.de

kupation vielen PalästinenserInnen das laufende Erleben ihres

de, en

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43

I Mit der Idee von der Autonomie der Kunst verknüpft sich als ihr komplementärer Widerpart die Frage nach dem politischen Charakter der Kunst. Sie stellt sich in veränderten historischen und sozialen Kontexten immer neu und stets anders. Die Antworten reichen von »Kunst ist immer politisch« bis zu »Kunst kann nie politisch sein«, von »Kunst darf nie politisch sein« bis zu »Kunst muss immer politisch sein«. Der Kongress »Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken« markiert einen Sinneswandel linker Kunst-Intelligenz.

PARTISANEN DER SINNLICHKEIT ÜBER MÖGLICHKEITEN, DAS ÄSTHETISCHE POLITISCH ZU DENKEN VON

INGO AREND

ber 1955 in Montgomery, Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Und damit ein Feld neuer Sichtbarkeit beanspruchte und auch praktisch einnahm. Auf dem Kongress »Politik der Kunst. Über die Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken« der Akademie der Künste und des Goethe-Instituts vergangenes Wochenende in Berlin fand der Ansatz freilich nicht viele Anhänger. DAS UNBESTIMMTE DER KUNST Denn die dem Kunstwerk eignende »Unbestimmtheit«, die für Ranciere erst den Betrachter zum politischen Handeln motiviert, negiert für die Wiener Kunsthistorikerin Ines Kleesattel die »Wahrheit« eines jeden

Das Symposium

Werks. Wenn nur noch die Erfahrung von Rancieres »emanzi-

»Politik der Kunst«

Dass nicht das Politische, sondern

des Goethe-Institutes.

das Ästhetische politisch ist – diese,

piertem Betrachter« zähle, könne man sich nicht mehr über ob-

Foto: Caroline Dose /

seit einiger Zeit wieder an Zulauf ge-

jektive Kriterien streiten. Was zugleich den Tod der Kunstkritik

Goethe-Institutt

winnende Gegenposition –, hatte der

bedeute.

© Goethe-Institut

französische Philosoph Jacques Ranciere schon Mitte der 2000er Jahre

Zwar sympathisierten die Kongressteilnehmer mit diesem Un-

ventiliert. Für ihn liegt die Kraft der

bestimmten der Kunst. Etwas, was die Offenbacher Kunstphilo-

Kunst in dem, was er die »Neuaufteilung des Sinnlichen« nennt.

sophin Juliane Rebentisch auch »Irritierbarkeit« nennt. Zu be-

Wenn also symbolische oder künstlerische Handlungen und Set-

stimmt sollte die kritische Kunst in Zukunft nicht mehr sein. Der

zungen eine bestehende ästhetische, symbolische Grammatik,

linken Intelligenz schwant nämlich, dass ihre vielbeschworene

Regelpoetik oder sonst wie normative Ordnung destruieren.

»gesellschaftliche Relevanz« anders aussehen muss als in der klassischen Politästhetik zwischen John Heartfield, Klaus Staeck

So wie etwa die amerikanische Bürgerrechtlerin Rosa Parks in

und Rimini Protokoll. »Wir steckten in der Sackgasse der politi-

das Feld des Öffentlichen intervenierte, als sie sich am 1. Dezem-

schen Eindeutigkeit«, resümierte die Filmemacherin und frisch

GOETHE-INSTITUT

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44

gewählte Akademiepräsidentin, Jeanine Meerapfel, Jahrgang

lagen. Nicht nur, weil »Beauty«, wie der gerade verstorbene

1943, selbstkritisch so manche Kunstproduktion der 70er Jahre.

Jazz-Musiker Ornette Coleman einmal eines seiner Alben betitel-

Der Berliner Kunstphilosoph Helmut Draxler klagt schon seit

tischen Alltags geworden, hat sie ihr einst subversives Potenti-

te, »a rare thing« ist. Zur ubiquitären Ressource des konsumisJahr und Tag über den wohlfeilen Mainstream der »criticallity«

al womöglich längst eingebüßt. Und wie in einen neomystischen

auf Biennalen, Triennalen, Documentas und dem Meer der po-

Tonfall zurückfallen kann, wer sie rehabilitieren will, das de-

litisch motivierten Themenausstellungen. Wenn schon ein pro-

monstrierte der Philosoph Christoph Menke, als er dem Kunst-

gressiver Mann wie Leonhard Emmerling, Leiter des Bereichs

werk eine außerökonomische »Kraft« zubilligen wollte, mit der

Bildende Kunst in der Münchener Zentrale des Goethe-Instituts

es »Macht über uns« habe.

vom »Elend der Partizipation«, der »Querfinanzierung der Kultur durch die Moral« und dem »engagierten Mainstream der relatio-

Ob nun das »Gramsci-Monument«, das der Schweizer Künstler

nalen Ästhetik« klagt, die über die »Mimikry der administrativen

thomas hirschhorn 2013 in new york errichtete, den »Dritten

Sprache« eine »bessere Gesellschaft« anstrebe, darf man wohl

Weg« zwischen dem Edelgrau des zeitgenössischen Biennale-Se-

von einem linken Unbehagen an der gesellschaftskritischen Äs-

minarismus, gut gemeinter Partizipationsfolklore und dem obso-

thetik zeitgenössischer Prägung sprechen.

let gewordenen »Schönen« à la Rilkes Duineser Elegien weisen

»Die politische Kunst ersetzt inzwischen die Politik«, warnte Em-

Instituts behauptete, war umstritten in Berlin. Den einen schien

merling nicht ganz zu Unrecht vor einem problematischen Rol-

Bartmanns »revolutionäre Bruchbude zwischen Scheitern und

lenwechsel. »Musik um ihrer selbst willen zu hören, ist schon po-

Utopie« zu Ikea-trashig und damit unschön, den anderen schien

litisch«, pflichtete der Komponist und Kunstprofessor Mathias

das Gemeinschaftsforum in Kunstform in den Forest Houses in

könnte, wie es Christoph Bartmann, Leiter des dortigen Goethe-

Spalinger, ein Urgestein der Neuen Musik in Deutschland, auf ei-

der new yorker Bronx die inkarnation der utopischen Melancho-

ner abendlichen Podiumsdiskussion in den Chor kritischer Stim-

lie. Die Diskussion über das Verhältnis von Kunst und Politik wird

men ein.

also immer, immer weitergehen. Aber vielleicht lässt sich Schön-

Die Künstler als »Partisanen der Sinnlichkeit« den Ausweg aus

Ästhetische politisch zu denken«, einfach einen neuen Punk.

heit sowieso nur dialektisch verstehen. Und es braucht, um »das dieser Sackgasse des Politischen suchen zu lassen, wie es der Philosoph Christoph Bermes empfahl, klang vielen zu martialisch. Zurück zur guten alten »Autonomie der Kunst« geht es aber of-

INGO AREND

ist Politikwissenschaftler und Historiker.

fenbar auch nicht. Die Kunstprofessorin Isabelle Graw erinner-

Er lebt in Berlin und ist seit 1992 Journalist und Kritiker sowohl

te daran, dass sich dieses Credo als kompatibel mit dem »Neuen

für Radio als auch Printmedien. Zudem ist er Mitglied

Geist des Kapitalismus« erwiesen hat, wie ihn die französischen

des Komitees der neuen Gesellschaft bildende Kunst (nGbK) in

Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrem gleichnami-

Berlin und wirkt an der Online-Zeitschrift Getidan.de mit.

gen Werk 1999 beschrieben.

Seine Schwerpunktthemen sind Kunst und Politik sowie Kunst und Kultur in der Türkei.

AUTONOMIE IN DER KUNST Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, so Graw, seien

November 2015

längst zu ökonomischen Tugenden geworden. Das Ideal einer autonomen Kunst erleichtere also nicht nur deren Vermarktung, sondern korreliere zudem mit den Werten dieser neuen Ökono-

ästhetik und Demokratie – Das Ingo Arend Blog

mie. Selbst die nicht ganz so theoriefeste AdK-Präsidentin Meer-

http://www.ingo-arend.de

apfel winkte ab: »Autonomie existiert nicht«, konstatierte sie das

de

Netz ihrer Abhängigkeiten – von der Genrewahl über die Geldgeber bis zu den Mitarbeitern.

Getidan – Autoren über Kunst und Leben http://www.getidan.de

Auch der schillernde Begriff »Schönheit« führt in diverse Schief-

de

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

45

I Sind die preiswerten Putzhilfen, Taxifahrer und Übernachtungsmöglichkeiten, die dank der Vernetzung über Internet und Smartphone schon heute für jeden verfügbar sind, der erste Schritt zu einer neuen, nachhaltigen Gesellschaftsordnung, in der alle alles teilen und es trotzdem – oder eben gerade deswegen – allen besser geht? Oder wird hier im Gegenteil der Grundstein für ein System der schrittweisen Enteignung, Überwachung und Ausbeutung gelegt?

wER TEILT, VERLIERT ein selBstVersUch Mit Der sharing econoMy VON

CAROLINE MICHEL

»Helpling« Verena Weinart verdient sich ihren Lebensunterhalt als Putzfrau. Foto: Helpling © Goethe-Institut

Im März 2013 ruft die Technologie-Branche auf der Cebit in Han-

lieben ihn und seine Ideen. Aber wie funktioniert das in der Pra-

nover die »Shareconomy« aus: »Wir wechseln von einer Welt des

xis? Und warum machen alle mit?

Besitzens in eine Welt des Teilens.« Ein bedeutendes historisches Ereignis, das in die Geschichtsbücher eingehen wird, meint auch

KONSUMVERSTOPfUNG

der US-Ökonom Jeremy Rifkin, der als Vater der Sharing Economy gilt. Die Basis seiner Vision ist ein Güterkreislauf, in dem

Die deutsche Wirtschaft blüht und gedeiht. Die Kreditzinsen sind

nichts mehr vorzeitig weggeworfen wird: »Wir teilen unsere Au-

niedrig wie nie, die Deutschen können sich mehr leisten als je-

tos, unser Zuhause, unsere Kleidung, unsere Werkzeuge. Mit al-

mals zuvor. Glücklich sind sie nicht. Gerade in den reichsten

len Menschen und immer wieder.« Ermöglicht wird dieses »Tei-

Konsumgesellschaften wird ein überproportionaler Zuwachs an

len«, von dem alle, aber vor allem die Umwelt, profitieren sollen,

Burnout, Depression und Hyperaktivitätssyndrom verzeichnet.

durch die weltweite Vernetzung via Internet und durch Vermitt-

»Wir merken doch, dass moderne Gesellschaften unter Konsum-

lungs-Plattformen wie wimdu, Airb’n’b, Huffingtonpost, share a

verstopfung leiden«, erklärt Niko Paech, Umweltökonom an der

dog, rent-a-rentner, checkrobin, Car2go, ebay, Kleiderkreisel, fa-

Uni Oldenburg. Schuld sei eine große Unzufriedenheit mit dem

cebook, 9flats, spottify, Leihdirwas, parkatmyhouse. Rifkin steht

Ist-Zustand, mit dem von Industrie und Handel diktierten Wirt-

im Moment hoch im Kurs, fast täglich spricht er auf irgendeiner

schaftswachstum. Denn wir wissen, dass die Ressourcen lang-

Konferenz, ist sogar Berater von Angela Merkel. Die Menschen

sam, aber sicher zur Neige gehen. Unsere Macht, uns gegen das

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

46

Schneller-höher-weiter aufzulehnen, war bislang auf Konsumver-

Problem. Außerdem bekomme ich schon vor Fahrtantritt ein Bild

weigerung, auf Verzicht, begrenzt. Doch mit der Sharing Econo-

von meinem zukünftigen Fahrer auf mein Handy geschickt.

my liegt plötzlich die Macht beim Individuum, Privatleute können bestimmen, wohin die Reise geht. So jedenfalls das Versprechen.

Diese App ist sicherlich die Zukunft, die die Taxifunktionäre mal wieder verschlafen haben und die sie jetzt vehement bekämp-

Um erste Erfahrung mit der Sharing Economy zu machen, fahre

fen. Aber hinter Uber stecke viel mehr als eine komfortable App,

ich zum Foodsharing-Hotspot beim gemeinnützigen Verein Neu-

erklärt mir Jost Reinert, mein netter Fahrer. Und damit meint er

land in Köln. Hier wechseln Nahrungsmittel ganz einfach und un-

weder das Wasser – mit und ohne Kohlensäure – noch die Scho-

bürokratisch ihre Besitzer. Um nicht mit leeren Händen zu kom-

koriegel, mit denen die Türen seines leicht beuligen Opel Cor-

men, habe ich ein Glas Orangenmarmelade mitgebracht, die ich

sa gefüllt sind. Und auch nicht die Großinvestoren wie Goldman-

nicht mag und die deswegen schon ziemlich lange nutzlos in mei-

Sachs und Google, die das ganze »Ubern« finanzieren. Er meint

ner Vorratskammer steht. Irgendein anderer Wohltäter hat dazu

die Idee, dass Privatleute ihre Zeit und ihre Autos mit anderen

auch noch Brötchen vom Vortag gestiftet. Das Angebot wurde

Privatleuten teilen: »Sicherlich haben auch die Aktionäre pekuni-

übers Internet verbreitet – und schon sind Leute da, die sich dar-

äre Interessen, sie sind Teil des kapitalistischen Systems. Nichts-

über freuen. Ein alter Mann beißt herzhaft in ein Brötchen – und

destotrotz gibt es innerhalb dieses kapitalistischen Systems Frei-

wem hat er das zu verdanken? Mir! Ein schönes Gefühl! Ein Punkt

räume, die wir nutzen können. Und Uber kann prinzipiell auch

für die Sharing Economy.

ein solcher Freiraum sein.«

Angestachelt von diesem ersten Erfolgserlebnis registriere ich

Jost Reinert, Jahrgang 1961, ist im Hauptberuf Kurator und im

mich noch auf dem Heimweg via Smartphone bei der Verleihbör-

Herzen Anarchist. Und Idealist. Ihn bewegt nicht die Frage, ob

se www.leihdirwas.de, bei der digitalen Gratis-Zeitung www.huf-

die Motive der Firma Uber gut oder schlecht sind, sondern: Was

fingtonpost.de und beim Mitfahrdienst www.uber.com. Wie im-

passiert, wenn die Menschen sehen, dass man Geschäfte machen

mer ohne sie genau durchzulesen, akzeptiere ich die allgemeinen

kann, ohne sich an die geltenden Regeln zu halten? Die Men-

Nutzungsbedingungen, erteile die in der Datenschutzerklärung

schen merken gerade, dass man Geschäfte auch untereinander

aufgeführte Einwilligung in die Verarbeitung und Nutzung meiner

machen kann, ohne sozialversicherungspflichtiges Arbeitgeber-

Daten. Das gefällt mir zwar nicht, ist aber meine Eintrittskarte in

Arbeitnehmer-Verhältnis, ohne klar definierte Kunden-Anbieter-

die Welt der internetbasierten Sharing Economy.

Beziehung, ohne zehnseitigen Vertrag und ohne Bezahlung im

»Gemeinschaftlicher Konsum hilft auch der Umwelt. Die Fra-

was wir bei Uber bezahlen, ist lediglich eine »Servicepauscha-

ge dabei ist, wie viele Rasenmäher braucht eine Wohnsiedlung?

le«, also unsere anteilige Beteiligung an Josts Kosten. Der »Be-

www.leihdirwas.de – Deine Verleihbörse im Internet.« Ich selbst

zahlvorschlag« – so heißt das wirklich – für meine Fahrt zur Düs-

habe nichts anzubieten, entscheide mich aber spontan für »Pal-

seldorfer Königsallee, also die Summe, die Uber demnächst von

herkömmlichen Sinne. Und ohne steuerpflichtige Gewinne. Denn,

me Aracea«, Mietgebühr 2 Euro pro Tag, und ein Fahrradschloss

meiner Kreditkarte abbucht: nur 9 Euro, obwohl wir insgesamt

für 8 Euro pro Woche. Nicht ganz billig und abzuholen im 40 Ki-

fast eine halbe Stunde unterwegs waren. Trinkgeld gebe ich auch

lometer entfernten Düsseldorf. Zusammen mit der Einwilligung

nicht, denn wir sind Gleiche unter Gleichen. Prima.

in die Nutzung meiner Daten insgesamt drei Minuspunkte. Das macht aber in diesem Fall nichts, denn in Düsseldorf habe ich die

Wir Kunden profitieren, denn bei herkömmlichen Taxifahrten

Möglichkeit, den Fahrdienst UberPop auszuprobieren.

schlägt schon die Mehrwertsteuer mit 7 % zu Buche, die auf den Fahrpreis addiert wird. Bei Kleinunternehmer Jost zahlen wir

EINE NEUE DIMENSION DES TAxIfAHRENS

entsprechend weniger. Ein wenig befremdlich dabei: Würde Jost mehr als 17.500 Euro pro Jahr umsetzen, müsste er Mehrwert-

Mit dem Taxidienst Uber zu fahren, kostet in Deutschland einen

steuer abführen, das 50-Milliarden-Dollar-Unternehmen Uber

Euro Grundpreis, 25 Cent pro Minute, 1 Euro pro Kilometer. Das

nicht. Aber in der Praxis stellt sich diese Frage meist nicht, denn

ist deutlich günstiger als die offiziellen Taxis in Deutschland. Um

der Gewinn für die Fahrer ist gering. »Klar ist, dass hier kaum ei-

ein Uber Taxi zu bestellen, ist kein Anruf bei einer Telefonzentra-

ner wegen des Geldverdienens fährt«, erklärt Jost.

le nötig, niemand hängt stundenlang in einer Warteschleife. Die App des Taxidienstes UberPop weiß direkt beim Aktivieren, wo

Aber warum dann? Weil Uberfahren ein Stück Anarchie ist! Bei

ich gerade bin und wo sich die dienstwilligen Fahrer befinden.

der Frage, ob ein Staat Uber verbieten soll, geht es also nicht

Keine Unsicherheit darüber, was die Reise kosten wird, ich erfah-

um die Rechte der alteingesessenen Taxifahrer und auch nicht

re den Fahrpreis, bevor ich die Fahrt verbindlich buche. Nimmt

um die schöne, leicht zu bedienende App. Es geht um Grund-

der Fahrer Umwege, ist das nämlich nicht mein, sondern sein

satzfragen. Wer in der Sharing Economy arbeitet, entzieht sich

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

47

dem klassischen Wirtschaftssystem genau so wie der, der die

»Und das ist der Grund, warum ein legaler Markt plötzlich Sinn

Möglichkeiten nutzt – in diesem Fall ich. Was mich allerdings

machen kann. Und das trotzdem zu einem Preis, der für die Kun-

ein klein wenig enttäuscht, ist, dass der große Aufschrei, den

den vertretbar ist«, sagt Helpling-Chef Benedikt Franke, 31, den

ich bei diesen aufrührerischen, revolutionären Ideen erwartet

ich in der Berliner Hauptzentrale der GmbH besuche. Es gibt aber

hatte, ausbleibt. »Zunächst wird kein Regulierungsbedarf gese-

noch einen Grund für die günstigen Preise: Das »Konstrukt Hel-

hen, das haben wir erst kürzlich von unserem Verkehrsminister

pling«. »Helplinge« sind nämlich, anders als es in der Werbung

gehört«, erklärt Wirtschaftswissenschaftler Daniel Veit, der im

suggeriert wird, nicht beim Portal angestellt, sie agieren aber

Rahmen eines großen, vom Bundesministerium für Bildung und

auch nicht als »teilende« Privatpersonen. Sie sind formal selb-

Forschung geförderten Forschungsprojekts den Beitrag der Sha-

ständig. Sie dürfen entscheiden, welche Aufträge sie annehmen,

ring Economy für ein nachhaltiges Wirtschaften in Deutschland

tragen aber auch das unternehmerische Risiko, haften für Schä-

abschätzen soll.

den, müssen sich selbst versichern und Steuern zahlen, allein zurecht kommen, wenn sie krank werden. Vorzeige-Helpling Ve-

Der Staat überlässt die Sharing Economy also weitgehend sich

rena Weinert, 58 Jahre alt, steht zum Interview bereit. Als seit

selbst, und das ist gut so. Denn so können tatsächlich alle mit-

dem Jahr 2007 selbständige Hauswartin fand sie es unerwartet

machen beim großen Teilen. Alle »be-teiligen« sich in irgendeiner

schwer, sich selbst Aufträge zu suchen: »Man muss sich bewer-

Form: Gründer sind bereit, unternehmerische Risiken einzugehen,

ben, man muss die Kunden überzeugen, man muss Werbung ma-

um Sharing-Vermittlungsportale zu betreiben. Journalisten sch-

chen ... und das kostet auch«. Seit einem Jahr kommen die Auf-

reiben ohne Bezahlung in kostenlosen Internetzeitungen wie der

träge hauptsächlich von Helpling.

Huffingtonpost. Großinvestoren und Internetriesen sind bereit, das Teilen zu finanzieren. Selbst alteingesessene Traditionsun-

Das ist das wirklich bahnbrechend Neue an dieser Art von Sha-

ternehmen – also die, die Macht und Geld haben, wirklich etwas

ring Economy: Wenn ich bei einer herkömmlichen Putzfirma eine

zu bewegen – sind bereit, sich zu engagieren: Car2go, drive-now

Putzfrau buche, bin ich Nachfrager, die Firma der Anbieter und

und multicity sind nichts als die englischen Namen für die Car-

die Putzkraft ist bei der Putzfirma angestellt. Für Helpling sind

sharing-Angebote von Daimler, BMW, Citroen.

wir BEIDE Kunden, die Putzkraft und ich. Und es spräche nichts

PROfIT DURCH TEILEN

rena – so wie es mir Murat schon erzählt hat. Doch: Ich bräuchte

dagegen, dass heute Verena bei mir putzt und ich morgen bei Veeinen Gewerbeschein, eine Krankenversicherung und eine Steu»Die sharing economy ermöglicht einen Zugang zu gütern und

ernummer. Denn so ganz gleich sind »Partner Caroline Michel«

Dienstleistungen, die für den Nutzer in dieser Form bisher un-

und »Partner Putzkraft Weinert« dann doch nicht. Die Rechnung

erreichbar waren«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Daniel

kommt übrigens auch nicht vom selbständigen Putzunternehmer

Veit. Das Versprechen lautet also: Wer teilt, hat nicht – wie frü-

»Partner Verena Weinert«, sondern wieder vom Portal »Partner

her – hinterher WENIGER, sondern im Gegenteil hinterher MEHR.

Helpling«.

In meinem Fall stimmt das auch. Eine sensationell günstige Taxifahrt war bisher für mich genauso unerreichbar wie eine eige-

»Partner Verena Weinert« ist zufrieden. »Man kann davon le-

ne Putzfrau. Schon allein, weil es mir zu umständlich schien, die

ben, ja. Ich hab aber auch keine großen Ansprüche. Ich habe we-

Hürde der komplizierten staatlichen Regulierungen zum Engagie-

der ein Auto noch ein teures Hobby, ich verreise nicht. Ich mache

ren einer Putzfrau in Deutschland zu überwinden. Heute, mit der

keine Partys, ich geh nicht weg, ich geh nicht essen.« Dafür ist

Sharing Economy und Putzportalen wie helpling.de sieht das an-

Verena »frei«. Sie kann entscheiden, ob und wenn ja wann sie bei

ders aus. Ich zahle 12,90 Euro pro Stunde und bekomme dafür

wem arbeitet – wie alle »Anbieter«, alle Partnermanager, alle Mi-

eine Putzkraft, »Helpling« genannt. Fertig.

krounternehmer, die ich bisher getroffen habe. Uberfahrer Jost Reinert und Putzmann Murat sind auch in ihren Hauptberufen als

Tatsächlich bekomme ich einen jungen IT-Spezialisten, der mit

IT-Fachkraft und Kurator selbständig bzw. Freiberufler.

dem Putzgeld seine Rückstände bei der Krankenversicherung bezahlen und der hier nicht namentlich genannt werden will, damit

Meine vorläufige Bilanz: Der Kunde profitiert, der Staat verliert

seine IT-Kunden nicht erfahren, dass er in finanziellen Schwierig-

und die kleinen Anbieter wie Jost, Murat und Verena profitieren

keiten steckt. Nennen wir ihn also einfach Murat. Murat ist ein

heute wenigstens ein bisschen, sind dafür aber morgen womög-

witziges Kerlchen, das zudem noch super putzt. Hat er im Ho-

lich als Steuersünder angeklagt oder Sozialfälle ohne soziale Ab-

tel in den USA gelernt, sagt er. Bei ihm zuhause putzt auch ein

sicherung. Und die Portale? Die halten sich bedeckt. In den Zei-

Helpling, das kostet dann so gesehen keinen was und beide kön-

tungen steht zwar, dass der Wert von Uber mittlerweile auf 50

nen den Rechnungsbetrag als haushaltsnahe Dienstleistung von

Milliarden Dollar angewachsen ist, und Helpling gibt eine Pres-

der Steuer absetzen. Der Staat bekommt nichts, die Allgemein-

semeldung heraus, in der steht, dass das Unternehmen stolz da-

heit zahlt.

rauf ist, bei verschiedenen Investoren seit seiner Gründung im

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

48

Jahr 2013 insgesamt 56,5 Millionen Euro eingesammelt zu ha-

Airbnb-Unternehmenssprecher Julian Trautwein, denn viele

ben, aber über die eigentlichen Gewinne – also das, was die Por-

Airbnbler seien Reisende, die ohne dieses Angebot überhaupt

tale durch die Vermittlung von Tauschleistungen einnehmen –

nicht verreist wären. Außerdem blieben sie in der Regel länger.

schweigen sich alle geschlossen aus. Falls es überhaupt Gewinne

Airbnb sei also keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung zum

gibt, denn es kursieren Gerüchte, dass viele Internetportale der

bestehenden Angebot: »Wir machen den Kuchen insgesamt ein

Sharing Economy sich nicht etwa an den kassierten Provisionen

bisschen größer.« Um eine Million Gäste pro Monat.

bereichern, sondern im Gegenteil im Moment noch kräftig draufzahlen. Um ein Angebot zu schaffen, dass es eigentlich gar nicht

DIE SUCHT NACH MEHR

gebe. Hier seien Großinvestoren im Spiel, die gezielt mit viel Geld einen Markt kaputt machen. Diesen Vorwurf hatte ich auch im

Seltsam: In unserer Gesellschaft gab es doch einmal das Ide-

Zusammenhang mit Uber schon gehört. Hier war von größeren

al, durch Wohltätigkeit, durch Solidarität untereinander unseren

Summen die Rede, die Uber an seine Fahrer gezahlt haben soll,

Konsum zu drosseln und die Ressourcen zu schonen. Jetzt, mit

damit sie überhaupt fahren. Nur warum sollte das Portal das tun?

der Sharing Economy, wird der Angebots-Kuchen nicht kleiner,

Eine Möglichkeit wäre der kostbare Datenbestand, der durch das

sondern größer. Was wir nun bekommen, ist nicht weniger, son-

ganze Teilen und Tauschen entsteht. Und Daten sind bekanntlich

dern MEHR. Selbst das ganze Carsharing könnte letztendlich zu

die Währung im Internet.

einem Mehr an Fahrten führen, weil Autos jetzt für MEHR Menschen besser verfügbar sind. Aber, falls das stimmt: Wie hat man

wOHNUNGSVERMITTLER

uns dazu überredet?

Die Internationale Tourismusbörse ITB in Berlin hat diesmal das

An der Wurzel, da wo wir verführbar sind, erklärt der Trendfor-

Schwerpunktthema Sharing Economy. Die alteingesessen Hoteli-

scher Peter Wippermann. Für die meisten Menschen ginge es

ers sind ähnlich besorgt wie die herkömmlichen Taxifahrer, denn

nämlich gar nicht mehr um Freiheit, Ressourcenschonung oder

Hoteliers, die brav all die staatlichen Vorschriften eingehalten

Gemeinschaftseigentum, sondern schlicht um den eigenen Profit.

haben, von Brandschutz bis Hygiene, gelten als verschnarcht

Danach ist »Teilen« im Sinne der Sharing Economy keine Wohl-

und innovationsfeindlich angesichts der Sharing-Konkurrenz, al-

tätigkeit mehr, sondern es geht darum, möglichst günstig Dinge

len voran der Shootingstar Airbnb, der mit mehr als einer Million

nutzen zu können. »Was sollten wir auch anderes mit dem dank

Unterkünften in mehr als 190 Ländern schon mehr als 26 Milli-

der Sharing Economy gesparten Geld tun, als mehr zu konsumie-

onen Gäste glücklich gemacht hat. Geschätzter Wert: 20 Milliar-

ren? Aber führt Sharing auf lange Sicht wirklich zu Ersparnis-

den Dollar.

sen? Oder wird schlicht alles teurer? Bei einem geringeren Absatz an Fahrzeugen müssten beispielsweise die Firmen höhere Prei-

Auch ich habe mich bei Airbnb in einer Privatwohnung einge-

se verlangen, um noch erfolgreich wirtschaften zu können, rech-

bucht, bei Angelika, die für 28 Euro pro Nacht ein nettes kleines

net mir der Wirtschaftswissenschaftler Daniel Veit vor. Es wür-

Räumchen in einer 4-Zimmer-Wohnung nächteweise mit Frem-

den dann zwar weniger Fahrzeuge produziert und verkauft, die

den »teilt«. Schon nach dem Besuch weniger Veranstaltungen auf

dann auch effektiver genutzt würden, aber die Kosten für den

der Tourismusbörse wird mir klar, dass nicht die kleinen Privat-

Einzelnen würden dadurch nicht signifikant sinken. Möglicher-

vermieter wie Angelika der Stein des Anstoßes sind. Es geht um

weise kostet ein geteiltes Auto in Zukunft dann so viel wie heu-

Menschen und Firmen, die Wohnungen nur anmieten, um sie an-

te das eigene, das ständig verfügbar vor der Tür steht. Aber es

schließend über Portale wie Airbnb zimmer- und tageweise wie-

würden Ressourcen geschont, da tatsächlich weniger Autos ge-

der zu vermieten und so ein Vielfaches der Miete zu erhalten, die

baut würden.

sie selbst zahlen bzw. die sie bei einer »dauerhaften« Vermietung an einen einzigen Mieter eingenommen hätten. 12.000 bis

»Sollte diese Entwicklung tatsächlich eintreten, was nicht un-

15.000 Wohnungen stehen dem Wohnungsmarkt angeblich durch

wahrscheinlich ist, dann ist tatsächlich die Möglichkeit da, dass

Plattformen wie Airbnb, wimdu oder 9flats allein in Berlin nicht

mit weniger Ressourcen der gleiche Wohlstand erreicht werden

mehr zur Verfügung. Deshalb werden Fragen gestellt wie: »Ist

kann. Und das wäre natürlich sehr wünschenswert.« Die Prei-

die ganze Stadt bald nur noch ein großes Hotel?«

se steigen, die Arbeit wie wir sie kennen wird weniger, die Löhne sinken. Die neue Arbeit wird dann das Teilen sein, prophezeit der

Meiner Meinung nach kommen solche Fragen deutlich zu spät,

Oldenburger Umweltökonom Niko Paech. Und zwar für alle, auch

denn dieser Markt ist längst in den Händen professioneller An-

für die, die eigentlich nie irgendetwas teilen wollten. In Paechs

bieter, die genau wissen, was nach deutschem Recht erlaubt

»Post-Wachstums-Ökonomie« teilt man nicht mehr aus Freude,

ist und was nicht. Der Staat hat auch hier keine Steuereinnah-

sondern aus Not. In einer kleinen, in sich geschlossenen Selbst-

men mehr, anders als bei Hotelübernachtungen. Und die Prei-

versorgergemeinschaft »ohne Geld, ohne Märkte, ohne fossi-

se für Mietwohnungen steigen. Aber wer profitiert? »Alle«, sagt

le Rohstoffe. Stattdessen kraft eigener Zeit, kraft handwerkli-

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

49

cher Kompetenzen und kraft sozialer Beziehung, die man dazu

B. Firmen, die Güter eigens anschaffen, um sie dann mit mir zu

braucht.« Plattformen wie Airbnb oder Uber gibt es in dieser Vi-

teilen. Das heißt dann zwar, dass der Kuchen weder kleiner noch

sion nicht. Weil niemand mehr verreist. Aber so weit ist es ja zum

größer, sondern schlicht neu aufgeteilt wird; und dass der Staat

Glück noch nicht. Im Moment wird der Kuchen größer, die Prei-

Kontrolle und Steuereinnahmen verliert und die Menschen ihre

se sinken.

festen Arbeitsplätze, dass alte Geschäfte zu neuen Regeln gemacht werden, von denen dann jemand profitiert, der seine Ge-

EINE fRAGE DER DEfINITION

winne garantiert nicht teilen wird – aber immerhin kann ich mir sagen, es gab einmal eine schöne, wenn auch kurze Zeit, in der

Dinge, die einem wirklich wichtig sind, verleiht man besser nicht,

auch ich endlich mal die Macht hatte, etwas zu verändern.

das haben wir schon als Kinder gelernt. Und bei Lichte betrachtet war auch das Einzige, was ich – außer meinem Geld – bisher

UND wAS fOLGT DARAUS?

geteilt habe, ein altes Glas Orangenmarmelade. Gekriegt habe ich eine günstige Taxifahrt, eine spottbillige Übernachtung und

Der Fahrdienst UberPop wurde kurz nach meiner Testfahrt mit

eine saubere Wohnung. Außerdem habe ich jede Menge net-

dem netten Jost gerichtlich verboten. Nicht auf Betreiben des

te Leute kennengelernt. Aber entspricht das noch der Grundidee

Staates, sondern wegen einer Klage der Taxigenossenschaften.

der Sharing Economy? Und ist »Teilen« überhaupt das richti-

Uber füllte die so entstandene Lücke allerdings sofort auf und

ge Wort für das, was da passiert? Denn die Frage »wer teilt hier

fungiert jetzt als ganz normales Taxiunternehmen. Zum Trost

eigentlich was mit wem?« ist nicht immer ganz einfach zu be-

zahlt es den ersten 100 Fahrern, die die Taxiprüfung ablegen, 500

antworten.

Euro als Prüfungskostenzuschuss, der ausgezahlt wird, sobald die

Taxifahrten eignen sich nur sehr bedingt zum Teilen. Nahrungs-

keiner mehr etwas, weder der Fahrer noch das Portal. Die Preise

mittel auch nicht. Denn man kann sie nur einmal essen, nicht ge-

für Kunden wie mich steigen, aber dafür bekomme ich Dienstleis-

meinsam nutzen. Deshalb »sharen« Menschen, die über Organi-

tungen, die in dieser Form vorher für mich nicht verfügbar wa-

ersten 100 Fahrten absolviert sind. Hier verdient nun wirklich

sationen wie Foodsharing.de ihr Essen teilen, überhaupt nicht,

ren, zum Beispiel eine personalisierte E-Mail, in der mich Uber

sagt Wirtschaftswissenschaftler Veit. Sie VERSCHENKEN Dinge,

freundlich darauf hinweist, dass die Gültigkeit meiner Kreditkar-

die sie nicht mehr gebrauchen können. Andere VERKAUFEN Din-

te bald ausläuft. Ein Service, den meine Bank bisher nicht hinge-

ge, z. B. bei ebay. Das sei auch kein Sharing. »Teilen gegen Geld«,

kriegt hat.

also das, was früher MIETEN hieß, ist – wenn überhaupt – nur dann Sharing, wenn es zwischen zwei Privatpersonen stattfindet.

Und während Jost noch um den Verlust seines Arbeitsplatzes

Richtig gut teilen lässt sich eigentlich nur Gemeinschaftseigen-

trauert, Murat weiter seine Schulden bei der Krankenversiche-

tum, wie es der Visionär Jeremy Rifkin in seinen flammenden Re-

rung abträgt, Verena sich um ihre Altersvorsorge sorgt, Berliner

den propagiert. In seiner Zukunftsvision teilen wir alles, auch die

Hoteliers in ihre Kissen heulen, Angelika überlegt, noch ein weite-

Kontrolle über das Teilen. Wir werden quasi vom Internet regiert,

res Zimmer zu vermieten und Journalisten weiter Hilferufe in so-

das für uns die Verwaltung übernimmt. Was aber nicht schlimm

zialen Netzwerken posten – immer noch der Frage auf der Spur,

ist, weil das Internet ja allen gemeinsam gehört und so jeder von

wer jetzt eigentlich genau was mit wem teilt –, wächst bei Uber,

jedem kontrolliert werden kann. Das vom revolutionären brasili-

Helpling & Co der Datenbestand. Der Grundstein für ein Internet,

anischen Theatermacher Augusto Boal begründete »Theater der

in dem alle alles mit allen teilen, ist gelegt. Sind wir jetzt endlich

Unterdrückten« scheint für die Verhältnisse in Ägypten wie ge-

glücklich?

macht. Die bekannte ägyptische Aktivistin und Theatermacherin Nora Amin erzählt in dieser Ausgabe von Art&Thought, wie dieses Theater funktioniert und was es in Ägypten leisten kann.

CAROLINE MICHEL ,

geboren 1966 in Köln, studierte

Germanistik, Anglistik, Pädagogik und Volkswirtschaftslehre. So weit so gut. Viel spannender ist die Frage: Wo soll das ganze

Seit 1998 arbeitet sie als freie Autorin für den

Gemeinschaftseigentum herkommen, auf das sich diese Utopie

Westdeutschen Rundfunk, den Saarländischen Rundfunk,

stützt? Ist MEIN Privateigentum etwa die große Ressource, die

den Deutschlandfunk, den Südwestrundfunk, den

von der Wirtschaft noch nicht ausreichend genutzt wird? Meine

Bayrischen Rundfunk, die Deutsche Welle, verschiedene

Zeit, meine Arbeitskraft, meine Wohnung, mein Auto, meine In-

Agenturen, Fachmagazine und Tageszeitungen.

timsphäre, meine soziale Absicherung, meine Daten? Soll ich das alles freiwillig herschenken, damit andere es »nutzen« können?

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann,

Da überlasse ich das »Teilen« dann doch lieber den »Großen«, z.

November 2015

GOETHE-INSTITUT

ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 104

50

I Auf den deutschen Künstler Joseph Beuys und seine Ideen über die Gestaltung des Zusammenlebens (»Soziale Plastik« = das Soziale als Kunst) geht eine weltweit einmalige Initiative zurück: Der OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRATIE, der seit vielen Jahren durch Europa fährt und dafür wirbt, dass sich die Menschen die Demokratie von den Politikern zurückholen und stärker durch Eigeninitiative gestalten.

wäRMECHARAKTER IM DENKEN josePh BeUys’ iDee eines oMniBUs für alle, DUrch alle, Mit allen VON

MICHAEL VON DER LOHE

Dies soll ein Manifest sein, auf die Würde des Menschen, auf die

Weltgegenden versorgt. Selbst wenn man unterstellt, dass die

Schönheit der Welt und auf eine sinnerfüllte, gemeinsame Zu-

Informationen durch die neuen Techniken auch mit einem gro-

kunft. Dieser Text ist kein Mitspielen im Katastrophenkonzert

ßen Anteil gezielter Desinformationen durchsetzt sind, so ändert

des Zeitgeschehens, kein angsterfülltes Erstarren im Überwäl-

dies nichts an dieser Grunderfahrung. Wir wissen, dass wir Men-

tigtsein durch ein unaufhaltsames Fortrollen unveränderbarer

schen verantwortlich sind für den Zustand der Welt. Wir wissen,

Ereignisse, denen der Mensch hilflos ausgeliefert ist. Denn wir

dass die Natur durch uns ins Ungleichgewicht gerät und wir wis-

haben es selbst gemacht und können es auch wieder ändern.

sen auch, dass wir verantwortlich sind für die Art und Weise unseres Zusammenlebens. Auch wenn es nicht allen bewusst ist, so

»es kommt alles auf den Wärmecharakter im denken an.

werden wir es zumindest fühlen. Der Mensch hat jetzt die Ver-

das ist die neue Qualität des Willens.« – Joseph Beuys

antwortung für den weiteren Verlauf der Erdenentwicklung. Ich habe die Verantwortung für meine Biographie.

Wir sind Zeugen eines großartigen Augenblicks der Menschheitsentwicklung. Wir leben zu einem Zeitpunkt, in dem sich die Men-

Ja, ich bin auch Naturwesen, ein Geschöpf, das seinen Ursprung

schen erstmalig als Menschheit erfahren. Das nennen wir Glo-

nicht kennt, aber auch ein mündiges Wesen, das im Gegensatz

balisierung. Der Blick ist nicht mehr nur auf das nähere Umfeld

zu den von uns gequälten Tieren und Pflanzen Verantwortung

beschränkt, sondern mit umfassenden Informationen aus allen

für den Zustand und die Zukunft der weiteren Entwicklung trägt. Jede(r) und ALLE haben ab jetzt die Gestaltungsverantwortung für die Erde. SOZIALE PLASTIK Diese Erfahrung im Denken, Fühlen und Wollen ist die Lebensentdeckung des weltbekannten Künstlers Joseph Beuys, der 1986 in Deutschland verstorben ist. Er hat ein Gesamtkunstwerk gesehen, das durch uns Menschen entstehen kann und hat diesem gemeinsamen Werk den Namen »Soziale Plastik« gegeben.

Der OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRATIE vor dem Reichstagsgebäude in Berlin. Foto: Michael von der Lohe / Omnibus für direkte Demokratie © Goethe-Institut

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Die Soziale Plastik ist ein lebendiges, in stetigem Wandel begrif-

schaffen für die Chance auf ein sinnerfülltes Zusammenleben der

fenes Kunstwerk, das nur in der Gegenwärtigkeit der Menschen

Menschen untereinander, im wesensgemäßen Wechselspiel mit

besteht und vergeht, aus dem unmittelbaren, intuitiven Erfassen

der Natur. Diese vier Menschen leben und arbeiten im und am

und Erzeugen der stimmigen Proportionen unter- und miteinan-

OMNIBUS. Regelmäßig fahren auch Schüler- und Studentenprak-

der. Mit der Natur und mit den Menschen.

tikantInnen mit und erleben sich so als sinnvolle Mitgestalter einer gemeinsam getragenen Idee.

Mit dieser Idee im Bewusstsein kann jeder Mensch unmittelbar mit der künstlerischen Gestaltung seiner eigenen Biogra-

Im Zentrum der Arbeit steht immer die Idee des Instruments ei-

phie beginnen und in diesem Sinne auch mit allen anderen Men-

ner dreistufigen Volksabstimmung. Was aber bedeutet das, ganz

schen zusammen dieses Gesamtkunstwerk der Sozialen Plastik

praktisch? Zunächst einmal bedeutet es, dass die Mitwirkenden

wagen. »Jeder Mensch ist ein Künstler« ist wohl der berühmteste

des OMNIBUS-Unternehmens den Gedanken ernst nehmen, dass

Satz von Joseph Beuys. Vielleicht auch der am meisten Missver-

jeder Mensch die gleichen Rechte hat. Nicht die gleichen Fähig-

standene. Es war nie damit gemeint, dass jeder Mensch im klas-

keiten, Möglichkeiten, dieselbe Bildung, etc., sondern dass er im

sischen Sinne Künstler sei, ein Bildhauer, Maler, Musiker. Es war

Gesamtkonzert der Entscheidung des weiteren Zusammenlebens

immer schon damit gemeint, dass ab jetzt jeder Mensch die Ver-

seine Würde hat und deshalb im Augenblick der Entscheidung

antwortung für die Gestaltung seines Lebens und der Welt hat,

eine Stimme besitzt, wie alle anderen auch. Diese Würde des

auch wenn er NICHTS tut.

Menschseins verleihen wir uns gegenseitig. Und wer ruhig und tief in sein Innerstes horcht, der weiß, dass es so ist.

KOMMUNIKATION MIT EINEM OMNIBUS Die Gestaltung des Gemeinwesens in einer Demokratie erfolgt Um vom persönlichen, auch privaten Gestalten zum gemeinsa-

also nicht nur über das Wählen von Vertreterinnen und Vertre-

men Gestalten des Zusammenlebens aller Menschen zu kommen,

tern, die dann als Parlament oder als Regierung die gesetzlichen

benötigen wir ein Kommunikationselement. Und da kommen das

Regelungen treffen, sondern auch über Abstimmungen in einzel-

gemeinnützige Unternehmen OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRA-

nen Sachfragen durch alle. Diese sogenannten Volksabstimmun-

TIE und die Idee der Volksabstimmung ins Spiel.

gen sollen dreistufig geregelt sein, nämlich in der Reihenfolge Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Dies ist in al-

Haben Sie schon einmal eine fahrende Schule getroffen, mit Leh-

len deutschen Bundesländern bereits so geregelt, allerdings auf

rerInnen, die zu Ihnen kommen, die mit Ihnen sprechen, Ihre Ide-

je unterschiedliche Weise und mehr oder weniger anwendungs-

en, Wünsche und Gedanken mitnehmen und weitertragen? Deren

freundlich, und dort wo sie sinnvoll geregelt sind, haben es die

LehrerInnen sich selbst immer auch als SchülerInnen verstehen?

Bürger durch Volksabstimmung selbst festgelegt.

Die fest davon überzeugt sind, dass wir alle die gleichen Rechte haben, und es deshalb unabdingbar ist, dass wir die Form unse-

Die großen Fragen des Zusammenlebens sind bisher von der di-

res Gemeinwesens auch in gleichberechtigter Weise gemeinsam

rekten Demokratie noch ausgeschlossen, da es immer noch kei-

abstimmen? Menschen, die diesen sozialen Gestaltungsprozess

ne Regelung für bundesweite (oder sogar europaweite) Volksab-

als Kunst betrachten und Ernst machen mit der Aussage des

stimmungen gibt.

Künstlers Joseph Beuys: »Jeder Mensch ist ein Künstler«? Dann sind Sie auf den ungewöhnlichen OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMO-

wAS BEDEUTET VOLKSABSTIMMUNG?

KRATIE getroffen, der schon seit 27 Jahren durch Deutschland und Europa fährt und die Menschen immer daran erinnert, ihr Freiheitswesen zu entwickeln.

Im Gegensatz zu einem Referendum, in dem eine von der Regierung formulierte Frage dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird, zeichnet sich die Volksabstimmung durch das Initiativrecht

In jedem Frühjahr startet der OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRA-

aus. Dies ist die erste Stufe des Volksabstimmungsprozesses

TIE erneut. Er ist acht Monate im Jahr unterwegs. Er fährt von

und ermöglicht jedem Menschen, einen Veränderungsvorschlag

Stadt zu Stadt, zu Veranstaltungen, Universitäten und Schulen. Er

zu machen. Er muss im weiteren Verlauf dann eine festgeleg-

steht in Fußgängerzonen, auf Marktplätzen, Schulhöfen und dem

te UnterstützerInnenzahl finden, um ein rechtmäßiges Verfah-

Uni-Campus, immer das Gespräch suchend.

ren einreichen zu können. Nach einer verfassungsrechtlichen Prüfung kann das Parlament den Vorschlag zum Gesetz erhe-

Seit 15 Jahren ist Werner Küppers der OMNIBUS-Kapitän. Er

ben oder es kommt zur zweiten Stufe des Volksabstimmungspro-

selbst sagt, dass er mit dieser Arbeit seine Lebensaufgabe ge-

zesses, dem Volksbegehren. Jetzt muss die Initiative durch eine

funden hat. Er bildet die Konstante der alltäglichen Helden im

deutlich höhere Anzahl von Befürwortern nachweisen, dass die

stetig wechselnden Feld. Er und drei wechselnde MitfahrerIn-

Bevölkerung über diesen neuen Vorschlag abstimmen will. Auch

nen verstehen sich als Humuserzeuger der Zukunft, die Substanz

nach dem Gelingen dieses zweiten Schrittes kann das Parlament

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dem Vorschlag zustimmen. Erfolgt dies wiederum nicht, so findet

Immer ist Johannes Stüttgen, Meisterschüler von Joseph Beuys,

zwingend der dritte Schritt des Volksabstimmungsverfahrens

als Referent mit dabei. Er und Brigitte Krenkers sind auch die

statt, der Volksentscheid. Jetzt kann das Parlament einen Gegen-

Gründer und Gesellschafter des OMNIBUS. Sie haben miterlebt,

vorschlag machen und die Bürgerinnen und Bürger stimmen über

wie Joseph Beuys sich selbst in den sechziger und siebziger Jah-

die beiden Vorschläge ab. Dann entscheidet sich, ob die Mehrheit

ren des vorigen Jahrhunderts Schritt für Schritt hin zur Idee ei-

eine neue Regel für das Zusammenleben will oder nicht.

ner Gestaltung von Gesellschaft, verstanden als künstlerische Aufgabe, entwickelt hat. Johannes Stüttgen hat diese Entwick-

So ist jeder Mensch an der Gestaltung des Gemeinwesens be-

lung in seinem grundlegenden Werk Der ganze Riemen umfas-

teiligt, sowohl durch die Möglichkeit des Vorschlagens von neu-

send beschrieben.

en Ideen, als auch durch den Volksabstimmungsprozess, bis hin zur endgültigen Entscheidung, bei der jeder Mensch nur eine

Der OMNIBUS hat im Jahr 2009 auf Einladung durch das Goethe-

Stimme hat. Erst durch die Volksabstimmung entsteht eine De-

Institut auch eine spektakuläre Reise durch 12 Länder in Südost-

mokratie, vorher existiert sie noch gar nicht. Und auch das Ver-

Europa gemacht, hin zum Ursprungsort der Demokratie in Athen,

fahren des Volksabstimmungsprozesses muss durch die Bürge-

aber auch bis nach Istanbul. Deutlich wurde auf dieser Fahrt,

rinnen und Bürger selbst festgelegt werden und kann nicht durch

wie viel Hoffnung die Menschen in das deutsche Vorbild setzen.

politische Vertreterinnen und Vertreter entstehen. Der Souve-

Sie bewundern unsere Strukturiertheit und Umsetzungsfähigkeit,

rän, die Gemeinschaft der zusammenlebenden Menschen, stellt

halten uns für wenig korrupt und sind meistgehend davon über-

die Regeln für die Gestaltung seines Gemeinwesens selbst auf.

zeugt, dass wir deshalb eine gut funktionierende Demokratie

Und damit können wir auch ein weltweit einmaliges Ereignis be-

entwickelt haben. Sie haben aber eine deutliche Wahrnehmung

schreiben, dass mit Hilfe des OMNIBUS im deutschen Bundesland

davon, dass die rein parlamentarische Demokratie zum Spielball

Hamburg stattgefunden hat.

von Einzelinteressen wird, da die Parteien vor der Wahl die Hoffnungen der Menschen bedienen, sich nach der Wahl aber an kei-

Im Jahre 2004 haben sich die BürgerInnen von Hamburg ein

ne Versprechen gebunden fühlen. Vor diesem Hintergrund sind

selbst gestaltetes Wahlrecht per Volksabstimmung gegeben. Dies

die Früchte direktdemokratischer Abstimmungen in Deutschland

ist das erste Mal, dass die Menschen, die Vertreter wählen wol-

unmittelbar verständlich und werden wie Frischluft erlebt. Wir

len, sich die dafür nötigen Regeln selbst gegeben haben und

haben auf diesen Reisen mit dem Omnibus erfahren, welche Er-

nicht die PolitikerInnen, die gewählt werden wollen. Damit haben

wartungen die Menschen an uns haben und wie wichtig es ist,

sich Letztere aus ihrer machtinteressierten Perspektive bis heute

dass wir mit gutem Beispiel vorangehen und uns als Träger und

nicht abgefunden und versuchen bei jeder sich bietenden Gele-

Ursprung der politischen Souveränität, also der basisdemokra-

genheit, das Regelwerk wieder auf ihre Interessen hin zu ändern.

tisch legitimierten Herrschaft, zeigen und beweisen. Eigentlich

Diese Gelüste mussten zweimal durch aufwändige neue Volksab-

kennen wir Menschen schon die richtige Form politischer Parti-

stimmungen von den BürgerInnen Hamburgs gestoppt werden,

zipation, wir müssen uns nur gegenseitig daran erinnern und uns

bis hin zu einer Verfassungsänderung. Jetzt bestimmen die Wäh-

so gegenseitig darin bestärken.

lerInnen die Regeln der Wahl und nicht diejenigen, die gewählt werden wollen. DIE THEMEN DES OMNIBUS

DAS ICH UND DIE GESELLSCHAfT Die Sehnsucht und Suche nach uns selbst führt zur Auflösung aller Traditionen und verlangt nach einer in uns selbst begrün-

Neben seinem stetigen Bemühen durch das andauernde, tägli-

deten Neubestimmung aller Begrifflichkeiten. Dies ist aber nur

che Gespräch am fahrenden OMNIBUS, die Willenskräfte der Be-

möglich durch eine vorläufige Trennung vom gesellschaftlichen

völkerung für die bundesweite Volksabstimmung zu erwecken,

Ganzen. Hier ich, da die Welt. Dies ist auch der Ursprung eines

ist das OMNIBUS-Unternehmen mit weiteren, vielfältigen Akti-

notwendigen Egoismus, der jedoch die Entdeckung des Gemein-

vitäten unterwegs. Bundesweit organisiert ein Team mindestens

samen nicht dauerhaft überlagern darf. Das Ohnmachtsempfin-

10 Veranstaltungen im Jahr. Die Themen bearbeiten immer die

den der Menschen gegenüber dem versteckten, symbiotischen

nächsten Schritte hin zu einer selbstgestalteten Gesellschaft. Ak-

Zusammenwirken von Vertretern aus Politik und Wirtschaft, die

tuell sind dies das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP,

versuchen, ihre egoistischen Einzelinteressen zu verwirklichen,

die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, die

erzeugt jetzt zunehmend wieder die Sehnsucht nach klaren Re-

Abschaffung der Massentierhaltung, das Ergründen einer neu-

geln. Es ist nicht verwunderlich, dass manche Menschen glau-

en Geldordnung, die Befreiung der Schulen und Universitäten

ben, die Regeln des Zusammenlebens jenseits von eigennützigen,

von staatlicher Bevormundung und die Flüchtlingsbewegungen

menschlichen Bedürfnissen müssten am besten aus göttlicher

in der Welt.

Hand stammen. Jedoch der Konflikt der Menschen untereinander,

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der durch das notwendige Auslegen und Interpretieren der gött-

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MICHAEL VON DER LOHE

wurde 1953 geboren.

lichen Vorgaben entsteht, wird unauflöslich sein und ähnliche

Er ist Fotograf, Autor und Geschäftsführer des OMNIBUS

Probleme mit sich führen wie rein weltlich begründete Geset-

FÜR DIREKTE DEMOKRATIE seit 2004 sowie Initiator

ze. Was fehlt, ist die Entdeckung einer allen gemeinsamen Ebene:

der Aktion »Der Aufrechte Gang«.

»der Gott in mir«. Die Regeln müssen aus unserem gemeinsamen Inneren entstehen, aus der Ebene in uns, die von allen Menschen geteilt wird.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann, November 2015

Somit sind wir wieder angekommen bei: Jeder Mensch ist ein Künstler, nicht zuletzt im gemeinsamen und gleichberechtigten

OMNIBUS füR DIREKTE DEMOKRATIE

Gestalten aus der Freiheit heraus. Und in Form einer Demokratie,

http://www.omnibus.org/

deren Regeln wir selbst gestalten. Jeder Mensch hat eine Stim-

de

me. Das ist das Zeichen der Zeit und dafür leben und arbeiten die Menschen des OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRATIE.

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I Für die politische Partizipation ist es heute unerlässlich, dass man Zugang zu einem Internet hat, in dem man nicht ständig fürchten muss, überwacht zu werden. Möglichkeiten dazu bietet zum Beispiel der Browser Tor, den auch Edward Snowden und Julian Assange genutzt haben, der aber leider auch von Kriminellen ausgenutzt wird. Wie das Internet jenseits der Überwachung funktioniert, erklärt Walter van Rossum.

GEfAHRLOSES SURfEN füR ALLE? FREIHEIT UND PARTIZIPATION IM INTERNET GEFÄHRDET DURCH ÜBERWACHUNG UND KRIMINALITÄT VON

wALTER VAN ROSSUM

Zeichnung von Johannes Stüttgen zur Idee der direkten Demokratie, für den Halt des OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRATIE in Budapest am 06.11.2009. Foto: Werner Küppers © Goethe-Institut

Als das Internet noch ein Traumgebiet war, eine Welterweiterung,

sige Archive: Man denke nur an die Datensammlung der NSA,

ein Fluchtraum stellte sich der amerikanische Schriftsteller Tho-

aber auch an die Wetterdaten der NASA, an alle nicht indexier-

mas Pynchon das Deep Web als einen virtuellen Märchenwald

ten Webseiten und die Myriaden vertrockneter Links, in denen

vor, eine digitale Unterwasserlandschaft, die man als Avatar be-

manchmal überraschenderweise doch noch ein paar Bytes sum-

reist – als künstliche Person, ein Pixelwesen der virtuellen Welt,

men. Das Deep Web soll mehr als 1000-mal größer sein als das

als Cyberpuppe. Pynchon erzählt aber auch die Geschichte einer

Internet, das wir täglich durchpflügen. Doch in den Tiefen des

feindlichen Übernahme, nämlich davon, wie das Internet von ei-

Deep Web findet sich noch ein Netzwerk, das sich den alten Ide-

ner Art kommunikativen Utopie zu jenem annähernd totalitären

alen einer globalen und freien Kommunikation aller mit allen ver-

Überwachungsapparat von Geheimdiensten und Technologiekon-

schrieben hat – das Tor-Netzwerk: Das Wort Tor setzt sich zu-

zernen verkommt, wie er mittlerweile auf unheimliche Weise re-

sammen aus den Anfangsbuchstaben von »The onion router«

alisiert worden ist.

– der Zwiebel-Router. Tor beschreibt sich selbst so: »Tor ist ein Netzwerk aus virtuellen Tunneln, das es Einzelnen und Gruppen

Das reale Deep Web ist dabei zunächst einmal jener Teil des Net-

erlaubt ihre Freiheit und Sicherheit im Internet zu verbessern.

zes, der durch Suchmaschinen nicht erfasst wird. Er enthält rie-

Individuen nutzen Tor, um sich vor Nachstellungen im Netz zu

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schützen oder um sich mit Webseiten zu verbinden, die von den

list Jamie Bartlett hat kürzlich ein Buch mit dem Titel The Dark

lokalen Internetprovidern gesperrt sind.«

Net veröffentlicht, in dem er das Personal des digitalen Underground beschreibt: »Das Dark Net ist für mich mehr eine Idee als

SICHERHEIT füR wHISTLEBLOwER

ein besonderer Platz: Es ist eine eigene, abgegrenzte Unterwelt,

Jacob Applebaum, einer der Entwickler von Tor, erläutert: »Es ist

vollständiger Freiheit und Anonymität, wo die Benutzer sagen

die mit dem Internet verbunden ist, das wir kennen, eine Welt ein gemeinnütziges Projekt, d. h. der Quellcode ist für alle ein-

und tun, was ihnen gefällt, meist unzensiert, dereguliert und au-

sehbar. Jeder kann sich ansehen, wie das funktioniert. Und jeder,

ßerhalb der gesellschaftlichen Normen.«

der dabei mitmacht, hilft dem Projekt und macht das Netzwerk stärker. Jeder kann damit kommunizieren, ohne eine Datenspur

Physikalisch gesehen besteht Tor aus Rechnern, die im Inter-

zu hinterlassen, die hinterher gegen einen verwendet werden

net stehen und die immer noch über das Internetprotokoll mit-

könnte. Es gibt jedem seine Stimme. Jeder hat das Recht, frei zu

einander verbunden sind. Aber es ist ein logisch und kryptogra-

kommunizieren.«

phisch vom Internet abgetrenntes Subnetz. Der Kopf hinter dem aktuellen Tor-Projekt ist vor allem Jacob Applebaum, der sich

Journalisten benutzen Tor, um sicherer mit Whistleblowern oder

auch viele neue Ideen hat einfallen lassen, um z. B. in China die

Dissidenten zu kommunizieren. Zum Beispiel Chelsea alias Brad-

Benutzung von Tor weiter zu ermöglichen. »Jake« Applebaum,

ley Manning, der nach Edward Snowden bekannteste Whistleblo-

32, US-Amerikaner, ist nicht nur ein genialer Programmierer, er

wer, hat Tor benutzt, um Wikileaks Dokumente zuzuspielen. Die

kämpft auch für die alte Internetutopie von der freien, großen

Regisseurin Laura Poitras, die für ihren Film Citizenfour über Ed-

und globalen Kommunikation. »Wir müssen den politischen Kon-

ward Snodwen einen Oscar erhielt, erklärt: »Ohne das Tor-Netz-

text der Situation wahrnehmen, besonders nach dem Snowden-

werk wäre die Arbeit investigativer Journalisten unmöglich. Und

Sommer 2013. Wir müssen verstehen, dass wir sonst keine Mit-

ich hätte natürlich auch mit Edward Snowden keinen Kontakt

tel haben, uns gegen NSA und GCHQ zu wehren, überhaupt keine.

aufnehmen und mit ihm arbeiten können. […] Immer wenn ich mit

Die Lösung besteht nicht in einer Aufteilung: Hier sind die Gu-

Snowden sprach, Monate bevor ich ihn schließlich in Hongkong

ten, da die Bösen. Ihr da auf der linken Seite, ihr habt kein Recht

traf, haben wir über Tor kommuniziert. Er hält Tor für absolut

auf freie Kommunikation. Genau das sagen wir nicht. Wir sagen:

überlebensnotwendig, um seine Privatsphäre vor Überwachung

Die Redefreiheit aller praktisch zu ermöglichen und zu schützen

zu schützen. Und für Snowden ist es das einzige Tool. Ich kenne

ist unser zentrales Anliegen. Die Bösen, wer oder was auch im-

Beispiele, was passiert, wenn Journalisten auf Tor verzichten.«

mer damit gemeint sein mag, haben jede Menge Möglichkeiten. Aber die meisten von uns haben sehr wenige Optionen, um si-

Auch Wikileaks-Gründer Julian Assange kommuniziert aus-

cher zu surfen.«

schließlich über Tor: »Verschlüsselung und Anonymisierung kamen nicht aus dem Nichts. Das war eine lange und schwierige

Jake Applebaum hat so seine Erfahrungen gemacht mit den Gren-

Suche, die freie und anonyme Kommunikation von Individuum

zen der Freiheit in der sogenannten freien Welt. Er hat früh Wi-

zu Individuum. Tor war das erste anonyme Protokoll, das das

kileaks unterstützt und mit Julian Assange zusammengearbeitet.

Gleichgewicht wieder hergestellt hat.«

Mehrfach wurde Applebaum von amerikanischen Behörden fest-

fREIHEIT GEGEN KRIMINALITäT

Mittlerweile lebt er in Deutschland. Aber auch hier kann er sich

gehalten, wurden sein Computer und sein Handy beschlagnahmt. nicht in Sicherheit wiegen. Im Dezember 2013 drangen UnbeDoch wie das so ist mit der Freiheit: Sie nimmt sich gelegent-

kannte in seine Berliner Wohnung ein und versuchten, seinen

lich Freiheiten heraus, die nicht vorgesehen waren. Und so ha-

Rechner zu manipulieren.

ben sich im Tor-Netzwerk eine ganze Reihe von so genannten »hidden services«, von verdeckten Diensten, geheimen Diens-

Das Tor-Projekt ist eine private Stiftung. Anfangs wurde die Ent-

ten gewissermaßen, angesiedelt, die die Anonymisierungsmög-

wicklung von Tor sogar von der NSA vorangetrieben. Allerdings

lichkeiten von Tor nutzen und von Drogen bis Waffen, von Kin-

stammen bis heute 60 Prozent der Finanzmittel des Tor-Projekts

derp*rnografie bis zum Auftragsmord so ziemlich alles offen

von der US-Regierung. »Einerseits ist die Unterstützung durch

anbieten, was in der Oberwelt in keinem Schaufenster zu finden

die Regierung prima, denn vieles von dem, was Tor in den letz-

wäre. Diese klar kriminellen Angebote haben dem Tor-Netzwerk

ten Jahren gemacht hat, wurde von Leuten entwickelt, die Voll-

den Namen »Dark Web« eingebracht.

zeit daran arbeiten konnten und sich keine Sorgen um die Miete

Dealer, Waffenhändler und Rechtsradikale auf der ganzen Welt

dine, einer der maßgeblichen Entwickler von Tor. »Auf der an-

oder um eine Mahlzeit machen mussten«, erklärt Roger Dingleteilen also ihre Kommunikationswege mit Oppositionellen – etwa

deren Seite ist das natürlich auch schlecht: Spender könnten ja

aus Syrien, aus China und aus den USA. Der britische Netzjourna-

auch Einfluss auf die Arbeit nehmen. Aber es gibt keine Leute,

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die kommen und sagen: Hier habt ihr einen Haufen Geld, baut

tinger Studenten Sebastian Hahn bekannt geworden, dessen Tor-

uns mal eine Hintertür ein. Wir werden niemals so eine Backdoor

Server von der NSA gehackt worden ist. Obwohl Sebastian Hahn

in Tor einbauen.«

weder dunkler Geschäfte noch extremistischer Aktivitäten verdächtigt wurde.

Wie schon so oft haben auch hier die amerikanischen Geheimdienste einen ihrer erfolgreichsten Gegner selbst erschaffen. Ja-

Der IT-Experte des bayrischen Landesamts für Verfassungs-

cob Applebaum: »Schon seltsam, auf der einen Seite haben die-

schutz, Michael George, ist sich keineswegs sicher, ob Geheim-

se Leute Tor aufgebaut, weil sie an die Anonymität glauben. Auf

dienste nicht doch einige Tor-Server weltweit unter Kontrolle

der anderen Seite halten Sie mich auf Flughäfen fest und bedro-

haben – auch ohne konkreten Verdacht etwa auf terroristische

hen mich. Einer sagte zu mir: Wunderbar, was du im Iran und in

Tätigkeit: »Wenn sie den Ausgangsknotenpunkt von Tor besit-

China machst, das hilft den Leuten. Großartig! Aber warum musst

zen, dann können sie die Anonymität von Tor bis zu einem ge-

du das auch hier machen?« Was in China oder im Iran die Freiheit

wissen Grad rückgängig machen, und so glaube ich bestimmt,

fördern soll, wird im eigenen Land feindselig betrachtet. Die NSA

dass einige dieser Ausgangspunkte von Nachrichtendiensten be-

will alles sehen – angeblich im Namen der Sicherheit.

setzt sind.«

TECHNIK wIE EINE ZwIEBEL

Jake Applebaum und die Seinen tüfteln pausenlos an Verbesse-

Die Tor-Software kann sich jeder kostenlos aus dem Netz run-

Joachim Selzer vom Chaos Computer Club ahnt die Macht der An-

rungen ihres Netzwerks, vor allem an dessen Unangreifbarkeit. terladen und selbst installieren. Das funktioniert so einfach wie

greifer und kennt die Schwächen jedes noch so raffiniert ver-

schnell. Tor operiert stets mit drei Rechnern: Der erste wählt sich

schlüsselten Netzwerks – und erklärt dennoch: »Im Moment ist

ins Netzwerk ein, der mittlere reicht die Anfrage weiter und der

nichts Besseres absehbar. Das Schöne an Tor ist die Flexibilität,

Dritte, der so genannte Exitnode, reicht die Anfrage wieder raus

weil alle Leute, die wollen, mal schnell sagen können, wir bauen

ins normale Internet. Die Tor Clients sind so aufgebaut, dass sie

einen Tor-Knotenpunkt auf. Es ist vor allem ein System, das auf

versuchen, drei Knoten zu nehmen, die in verschiedenen Län-

maximalem Misstrauen aufbaut. D. h., ich muss nicht einmal dem

dern stehen. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass alle drei

Betreiber eines Knotenpunkts vertrauen, sondern ich muss der

Maschinen von derselben Organisation kompromittiert werden.

Mathematik hinter Tor vertrauen und ich muss darauf vertrauen, dass die drei Knoten, die ich ausgesucht habe, nicht miteinan-

Diese fintenreichen Umwege kosten allerdings auch ein bisschen

der kooperieren.«

Geschwindigkeit. Dazu kommt, dass Tor alle zehn Minuten seine Wege ändert – auch wenn am anderen Ende der Leitung im-

DIGITALE SEIDENSTRASSE

mer derselbe Empfänger sitzt. Außerdem verschlüsselt Tor die Daten bis zum so genannten Exitnode. Technisch gesehen han-

Mit dem Tor-Browser kann man relativ sicher durchs so genann-

delt es sich um eine Dreifachverschlüsselung, die dann von je-

te Clearnet, also unser normales Netz, surfen. Aber man muss gar

dem weiterverweisenden Knoten um eine Verschlüsselungsebe-

nicht auftauchen aus dem Dark Web. Denn hier unten gibt es fast

ne erleichtert wird. Also der erste Knoten bekommt eine dreifach

alles. Das Dark Web ist vor allem ein Einkaufsparadies für verbo-

verschlüsselte Anfrage, von der er den äußersten Layer entfer-

tene Waren und Dienste. Und dann versammelt es auch so etwas

nen kann. Der mittlere Knoten bekommt noch die zweifach ver-

wie Genossenschaften, unter dem Dach verschiedenster Anbieter.

schlüsselte Nachricht, von der er wiederum den äußeren Layer

Eine der bekanntesten war bis vor Kurzem Silk Road, die 2014

entfernen kann. Der Exitnode bekommt dann eine einfach ver-

verboten wurde. Der britische Journalist Jamie Bartlett hat sich

schlüsselte Nachricht, von der er wiederum die letzten Crypto-

da getummelt: »Das Verblüffende ist, wenn Sie sich da einloggen,

layer entfernen kann, und diese Anfrage schickt er dann raus ins

wie vertraut das alles aussieht. Jeder, der schon mal bei Amazon

Netz. Und deshalb heißt das auch TOR – The Onion Router – weil

oder eBay war, weiß sofort, wie man sich da bewegt. Der einzi-

sich eben diese drei Verschlüsselungsebenen wie bei einer Zwie-

ge Unterschied sind die Produkte, die da angeboten werden. Das

bel um die eigentliche Nachricht legen.

sind nicht nur Drogen, die sind wohl das Hauptgeschäft, aber es

Das Netzwerk besteht im Moment aus über 6000 Servern, die

teste Angebot war? Gefälschte 20 Pfund-Supermarkt- Gutschei-

Privatleute freiwillig und auf eigene Kosten betreiben. Jeder

ne, für acht Pfund das Stück.«

gibt da alles. Und wissen Sie, was im letzten Jahr da das belieb-

kann selbst Teil des Netzwerkes werden. Diese Server stehen in unterschiedlichen Ländern, die meisten in Nordamerika. Aller-

Doch um den Weg zu den Händlern zu finden, braucht man erst

dings kann niemand garantieren, ob nicht einige oder sogar viele

mal ein Adressverzeichnis – zu finden unter Hidden Wiki. Und

Server von Geheimdiensten oder den so genannten Sicherheits-

die Adressen sehen ganz anders aus als im bekannten Internet.

behörden betrieben werden. In Deutschland ist der Fall des Göt-

Wer zum Beispiel zqktlwi4fecvo6ri.onion in die Adressleiste sei-

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nes Tor-Browsers eingibt, gelangt gewissermaßen auf das Händ-

nell zu.« Nichts, was im Dark Web angeboten wird, gibt es nicht

lerverzeichnis des Tor-Netzwerks. Und hier öffnet sich dann fein

auch in der analogen Oberwelt. Mit anderen Worten: Das Tor-

säuberlich, akkurat und übersichtlich in Kapitel aufgeteilt das An-

Netzwerk bringt diese Kriminalität nicht hervor, sondern bietet

gebot. Gleich zu Anfang stehen Links zu eigenen Tor-Suchmaschi-

ihr nur bestimmte Vertriebsformen. Die Kriminalität ist ein Pro-

nen.

blem. Die Überwachung das andere. Wer Tor benutzt, ist auf der Flucht vor Überwachung. Aber wer auf der Flucht vor Überwa-

Wer im Inhaltsverzeichnis ein bisschen runterscrollt, stößt bald

chung ist, muss nicht kriminell sein.

auf die umfangreiche Drogenabteilung. Zum Beispiel auf den Link zu einem »Drug Market«. Man muss sich mit einem fik-

Ungeheure Überwachungsapparate belauschen jeden unserer

tiven Namen registrieren, dann öffnet sich das Schaufenster

Schritte, komplexe und enorm leistungsfähige Systeme sammeln

auf über 14.000 Angebote verschiedener Anbieter.

sämtliche Daten, die wir pausenlos erzeugen. Und wie staatliche

Die Anbieter heißen Turkiman, Capricorn oder Arbeitsamt 100

weitgehend unreguliert. Michael George, der Cyber-Experte im

und versprechen binnen zwei bis drei Tagen wohin auch immer

Dienste eines deutschen Geheimdienstes, erklärt: »Es gibt nichts,

zu liefern. Sofort nach Eingang der Bezahlung. Und hier beginnt

was den Sicherheitsbehörden wirklich entgegengesetzt werden

das Problem. Von Turkiman, Capricorn oder Arbeitsamt 100 gibt

kann. Man sollte auch nicht den Eindruck vermitteln, dass es so

es nur eine TOR-Adresse und sonst nichts. Der Kunde erfährt

eine falsche Form der Sicherheit gibt. Das Einzige, was man ma-

nicht einmal, wo diese Herrschaften sitzen, wenn sie überhaupt

chen kann, um sich gegen so eine Form der Ausspionierung wirk-

oder private Datensammler mit diesen Daten umgehen, das ist

irgendwo sitzen. Und hier kommt dann eine fast schon archai-

sam zu schützen: Wir brauchen Gesetze, die es den Behörden

sche Kategorie zum Zuge, die man in dieser Unterwelt am we-

verbieten, diese Ausspähung durchzuführen, und wir müssen

nigsten vermutet hätte: Vertrauen. Und das höchste Gut in die-

den politischen Willen haben, diese Gesetze auch wirklich durch-

sen Kreisen ist ein Markenname, dem man vertraut. Silk Road,

zusetzen. Das ist die einzige Form, wirklich Anonymität zu ge-

zum Beispiel, wo Jamie Bartlett beste Erfahrungen gemacht hat:

währleisten, denn wenn man das nicht hat, wird es immer Mög-

»Der wahre Trick, das Geheimnis von Silk Road ist – Kunden-

lichkeiten geben, diesen Sicherheitsmechanismus zu umgehen.«

dienst. Das hält den Laden zusammen. Das ist wie bei eBay ein ausgezeichnet funktionierender Marktplatz. Hunderte Verkäufer

DäMLICHKEIT VIELER USER

bieten Tausende von Produkten an. Das Entscheidende ist: der Kunde bewertet wie bei Amazon. Die Kunden werden geradezu

Der Cyberexperte lässt keine Zweifel: Die kriegen dich – egal wer

genötigt, eine Bewertung abzugeben. Wie war die Verpackung?

»die« im Einzelnen sind. Und wer zu entkommen versucht, ist

Kam die Lieferung rechtzeitig? Wie ist das Preis-Leistungs-Ver-

Partisan auf ewiger Flucht. Insofern bliebe eigentlich allen Be-

hältnis? Wettbewerb, Angebot und Nachfrage, so funktioniert ein

teiligten nichts anderes übrig, als sich Michael Georges Appell zu

guter Markt nun mal.«

eigen zu machen. Das Problem ist nur: Nichts liegt den Mächten und Mächtigen im großen irren Cyberspiel ferner. Und sie können

Bezahlt wird mit der Internetwährung Bitcoin. Was war außer

sich auf die schiere Dämlichkeit der Milliarden User verlassen,

Drogen noch im Angebot? Wäre vielleicht nicht schlecht, ein paar

die sich mit ihren digitalen Spielzeugen als Schäfchen einer kom-

gefälschte Papiere zu haben – für den Fall, dass man mal eilig

plett überwachten Herde mästen. »Und sie kriegen uns, denn wir

verschwinden muss ... »US-Pass, Personalausweis und Führer-

sind allesamt einsam, bedürftig, gekränkt und wild entschlossen,

schein – alles zusammen 2000 €.« Oder New Life Identity – Füh-

an jede noch so jämmerliche Imitation von Zugehörigkeit zu glau-

rerscheine aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Litauen und Po-

ben, die sie uns andrehen wollen … Man spielt mit uns, aber die

len. Pässe weltweit. Express Lieferung. Oder: Sol’s United States

Karten sind gezinkt, und das Spiel ist erst vorbei, wenn das In-

citizenship – »Werde ein echter US-Bürger. Verkaufen Einbürge-

ternet – das echte, der Traum, das Versprechen – zerstört ist«,

rung.«

schreibt der amerikanische Autor Thomas Pynchon in seinem Roman Bleeding edge.

SPIEGEL DER GESELLSCHAfT Nach allen bekannten Informationen überwacht der amerikaJacob Applebaum kennt natürlich auch diese Seite seines Netz-

nische Geheimdienst National Security Agency große Teile der

werks: »Um die Anonymität kreisen ein paar Geschichten. Ei-

Menschheit routinemäßig und sammelt Daten in einem noch gar

nes dieser Narrative besagt: Anonymität ermöglicht Kriminalität.

nicht ganz überschaubaren Ausmaß. Die NSA erfüllt sämtliche

Dann hören wir von solchen Sachen wie z. B. Silk Road … Ist das

Voraussetzungen, um, wenn sie will, eines Tages als Zentralagen-

furchtbar: Man kann im Internet Illegales tun! Nun, willkommen

tur einer perfiden Tyrannei zu funktionieren. Vorsätzlich und

im Internet! Aber das Internet kann auch nur die menschliche Ge-

systematisch werden schon heute die vom deutschen Grundge-

sellschaft widerspiegeln. Und manchmal geht es da eben krimi-

setz garantierten Grundrechte von einem ausländischen Geheim-

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dienst außer Kraft gesetzt. Das alles wissen wir. Doch Politiker

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wALTER VAN ROSSUM

studierteromanistik,Philosophie

und Strafverfolgungsbehörden, die ihren Eid auf die Verteidi-

undgeschichtein köln und Paris. seit 1981 arbeitet er als freier

gung der Grundrechte geschworen haben, behandeln diesen Su-

Autor für WDR, Deutschlandfunk, ZEIT, Merkur, FAZ, FR

per-GAU als eine Art Taschendiebstahl, zu dessen Klärung ir-

und Freitag. Er lebt in Deutschland und in Marokko.

gendwie das juristische Besteck fehle. Unter diesen Umständen

Zu seinen bekanntesten Büchern gehört das 2007 erschienene

zu glauben, dieser Staat wäre in absehbarer Zeit willens und im

Buch: Die Tagesshow. Wie man in 15 Minuten die Welt

Stande, Privatheit und freie Kommunikation herzustellen und zu

unbegreiflich macht, köln 2007.

garantieren, ist bestenfalls naiv. Wir sollten uns auf eine ziemlich lange und ungemütliche Flucht einrichten – in Tunneln, die wir wohl oder übel mit Gangstern teilen müssen.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann, November 2015

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I Der syrische Philosoph Sadek al-Azm gehört zu den nicht gerade häufigen arabischen Denkern, die es schaffen, sowohl den Islam als auch die vordergründig säkularen Regimes der arabischen Welt zu kritisieren. Dank seiner Schriften verstehen wir – westliche und arabische Leser gleichermaßen – die arabische Welt besser. Dafür wurde er jetzt mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet.

VORDENKER UND KRITIKER laUDatio aUf Den araBischen PhilosoPhen saDik al-aZM VON

STEPHAN wILD

Zu Beginn des Jahres 1969 war ich noch nicht lange im Libanon.

von Sadiks arabischen fundamentalistischen Erzfeinden, Salah

Aber ich hatte schon viel gehört von einem Syrer namens Sadik

al Munadschid, gelang es, 1968 in Deutschland ein Buch zu pub-

Jalal al-Azm. Die libanesischen Zeitungen schrieben kontrovers

lizieren mit dem Titel Wohin treibt die arabische Welt?. Demnach

über diesen Querkopf aus Damaskus. Und der damalige Korre-

hatten die Araber den Juni-Krieg verloren, weil die Muslime nicht

spondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Beirut warn-

fromm genug waren und dem Kommunismus und Bolschewismus

te mich vor diesem Linken, der ein leibhaftiger Marxist sei. Ich

huldigten. Das war genau die Form von religiös verbrämtem Ob-

überwand meine Angst, und versuchte, Sadik in seiner kleinen

skurantismus, den Sadik sein Leben lang be-

Wohnung gegenüber der American University of Beirut zu errei-

kämpfen sollte.

chen. Aber: Sadik saß gerade im Gefängnis.

Sadik al-Azm

Das zweite Buch führte Sadik dann für kur-

bekommt die

Und das war so gekommen: nach seiner rückkehr von der yale

ze Zeit ins Gefängnis. Es hieß Kritik des re-

Goethe-Medaille

University hatte Sadik an der Beiruter American University eu-

ligiösen Denkens, ebenso auf Arabisch und

verliehen.

ropäische Philosophie gelehrt und daneben 1968 und 1969 zwei

für Araber geschrieben. Es wurde zum Best-

Foto:

Bücher auf Arabisch geschrieben, die ihn mit einem Schlag über

seller, wird in fast allen arabischen Ländern

© Maik Schuck /

die ganze arabische Welt hinweg berühmt oder – für andere – berüchtigt machten. Das erste Buch hieß Selbstkritik nach der Niederlage. Diese Niederlage war der israelische Blitzsieg über die ägyptischen, syrischen und jordanischen Truppen im Juni 1967. Sie traf die arabischen Regimes all ihrer hochtönenden Propaganda zum Trotz absolut unvorbereitet. Und Sadik analysierte als Erster diese Niederlage als schmähliches selbstverschuldetes Versagen und nicht, wie fast alle seine arabischen Kollegen, als temporären »Rückschlag«. Zu Sadiks erbittertsten Widersachern wurden diejenigen muslimischen Gelehrten, die sich hinter dem Slogan »Der Islam ist die Lösung« – nämlich die Lösung aller Probleme der modernen Welt – verschanzten. Einem

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bis heute gelesen, wenn auch regelmäßig verboten. Der Muf-

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ARABISCHER INTELLEKTUELLER IM ExIL?

ti von Beirut hatte Anstoß an der Kritik Sadiks an Koran und Islam genommen und ihn angeklagt, konfessionelle Zwietracht« er-

Sadiks Verständnis von Literatur war meist politisch unterlegt.

regt zu haben. Der Staatsanwalt warf Sadik u. a. vor, er habe die

Als Salman Rushdies magisch-realistischer Roman The Satanic

Existenz von Djinnen, Engeln und Teufeln, wie der Koran sie leh-

Verses (1988) erschien, sah Sadik die Einzigartigkeit dieses Bu-

re, bezweifelt und verspottet. Im Libanon, dem arabischen Staat

ches darin, dass es den muslimischen Osten und den säkularen

mit der bis heute freiesten Presse, wurde Sadik nach einer Wo-

Westen zum allerersten Mal in eine religiöse, politische und li-

che aus der Haft entlassen.

terarische Kontroverse zwang. Sadik sah in Rushdie den muslimischen Dissidenten, einen literarischen Fortführer von Fran-

Das Hauptmotiv in Sadiks Lebenswerk scheint mir der Begriff

cois Rabelais und James Joyce. Das überstrapazierte Goethesche

»Kritik« zu sein. Das hat wenig mit Immanuel Kants Vernunft-Kri-

Wort von Orient und Okzident, die nicht mehr zu trennen sei-

tik zu tun, über die sadik in yale gearbeitet hatte. Vielmehr war

en, bekam hier eine neue Kontur. Sadik war einer der ganz weni-

Sadiks Kritik vor allem an der Religionskritik von Karl Marx ori-

gen arabischen Autoren, die es wagten, sich eindeutig zu diesem

entiert. Sadiks Kritik an der Allianz von institutionalisierter Re-

Buch zu bekennen und die politisch motivierte »Todes-Fatwa«

ligion und Politik wurde gewissermaßen zu seinem Markenzei-

des Imam Khomeini zu verdammen.

chen. »Speaking truth to power« war sein schwer ins Deutsche zu übersetzender Wahlspruch. Und: Debatten hatten öffentlich

Sadik wurde und wird zu Recht im Westen gefeiert – wie am heu-

zu sein. Sadik gehörte und gehört noch immer zur arabischen

tigen Tag. Wir sollten dabei eines nicht vergessen. Seine Bücher

Linken, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stark ge-

wurden und werden in den arabischen Ländern viel gelesen, ihr

schwächt ist. Der Marxismus war lange Zeit vielen arabischen In-

Autor aber dort nie gefeiert. Kein arabischer Politiker hat je eine

tellektuellen als der einzige Weg erschienen, ihre Gesellschaften

seiner Thesen aufgenommen. Soweit ich weiß, hat keine arabi-

besser zu verstehen. Der Sozialismus schien am besten geeignet,

sche Universität je gewagt, ihm einen Preis zuzuerkennen. In ei-

die arabischen Gesellschaften gerechter zu machen. Wir haben

nem Interview hat er vor einigen Jahren gesagt, er werde alles

in Deutschland guten Grund, Stalinismus und Real-Sozialismus

tun, um niemals »ein arabischer Intellektueller im Exil« zu wer-

kritisch zu sehen. Aber in den arabischen Gesellschaften schie-

den. Heute werden wir ihn leider als genau einen solchen feiern

nen Säkularismus, Rationalismus, Feminismus, unabhängige For-

müssen. Sadiks Heimat Syrien versinkt in Feuer und Blut. Auch

schung und vieles andere nur möglich, wenn sich diese Gesell-

im Libanon kann er sich seines Lebens nicht mehr sicher sein.

schaften nach links bewegten.

Gibt es Licht am Ende dieses schrecklichen Tunnels? Ja – zumin-

1990 schrieb Sadik ein trotziges Buch: Zur Verteidigung von Mate-

in einer schönen Ausgabe in englischer Übersetzung zu haben.

dest ein wenig. Sadiks wichtigste Aufsätze sind seit einiger Zeit rialismus und Geschichte – ebenfalls auf Arabisch. Er forderte ei-

Sadik weiß natürlich, was schon Voltaires Candide wusste: Die

nen undogmatischen Marxismus zu einer Zeit, da viele ehemali-

Welt ist weder ein Garten Eden noch die beste aller Welten, son-

ge arabische Linke mit Khomeinis Islamischer Republik zu flirten

dern voller Grausamkeit. Candide schickt sich im letzten Satz von

begannen oder sich dem französischen Postmodernismus in die

Voltaires Buch trotz Feuer und Blut an, seinen »Garten zu bestel-

Arme warfen.

len«. Sadik al-Azm bestellt keinen Garten. Aber er ist schon dabei, für uns ein neues Buch zu schreiben.

Wenn Sadik heute mit einer Goethe-Medaille geehrt wird, erscheint es angemessen, auch kurz etwas über sein Verhältnis zur

Der vorliegende Text ist die Laudatio auf Sadek al-Azm anlässlich

Literatur zu sagen. Als Sadik in Princeton im April dieses Jahres

der vom Goethe-Institut an ihn verliehenen Goethe-

erfuhr, dass ihm eine Goethe-Medaille zugesprochen worden war,

Medaille, gehalten am 25.8.2015 in Weimar, Goethes Geburtsort.

schrieb er mir, er habe sich sofort den Faust Teil I aus der dortigen Universitätsbibliothek kommen lassen. Dieses Drama sei für ihn seit jeher ein Meilenstein in der Geschichte der Moderne gewesen. Tatsächlich hat Sadik in den 1970er und 1980er Jahren

STEfAN wILD

ist emeritierter Professor

für Islamwissenschaft an der Universität Bonn.

Vorlesungen über Goethes Faust gehalten, auf Englisch an der American University of Beirut und später auf Arabisch an der Universität Damaskus.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann, November 2015

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ART&THOUGHT / FIKRUN WA FANN 53. (15.) Jahr, Nr. 104 (Nr. 29), Dezember 2015 – Juni 2016 Herausgeber: Goethe-Institut e.V. Chefredakteur: Stefan Weidner Anschrift des Herausgebers: Goethe-Institut e.V. Dachauer Str. 122 D-80637 München Deutschland Redaktionsbüro: Stefan Weidner Art&Thought / Fikrun wa Fann Pralat-Otto-Müller-Platz 6 50670 Köln Deutschland Das Kulturmagazin Art&Thought des Goethe-Institut e.V. erscheint zweimal jährlich in Englisch, Arabisch (Fikrun wa Fann), und Persisch (Andishe va Honar). Gestaltung: Graphicteam Köln Bonn Michael Krupp AGD ISSN 0015-0932 [emailprotected] http://www.goethe.de/fikrun

Titelbild: Netzwerkdiagramm. Foto: Michael Krupp © Goethe-Institut

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